Der Blog

Was bleibt?

Wohin mit den Überlegungen, Gedanken, Impulsen, die wir aus den Abenden mitnehmen?

Der Diskurs geht weiter: Folgen Sie unseren jungen Autor_innen. Das Forum 2023 wird von Eva-Maria Kleitsch, Paul Krauße, Lillemor Pauli, Dennis Reinhart und Rebecca Thoss kritisch begleitet.

Fünf junge Menschen unter dreißig besuchen während zehn Tagen die Veranstaltungen und schreiben darüber. Mit einer Carte Blanche reflektieren sie die Thesen zu Erbe und Hinterlassenschaft und setzen sie in unterschiedliche Perspektiven. Sie beobachten die Lesungen und die Gespräche. Sie kommen mit den Gästen, den Moderator_innen und dem Publikum ins Gespräch, stellen Fragen, überprüfen die Thesen und die Standpunkte, sie schaffen und informieren die Öffentlichkeit.

LILLEMOR PAULI

Die Liebe zu Büchern hat mich mein Leben lang begleitet - die Angst, wie meine Zukunft und die der Welt, in der ich lebe und leben werde, aussieht, kam erst in meiner späten Jugend. Doch anstatt die Augen vor Schwierigkeiten und Krisen zu verschließen, muss gelernt werden, sie weit offen zu halten, um die Chancen zur Besserungen, die es immer geben wird, nicht zu verpassen. Dieses Erbe, das hinterlassen und übernommen wird, in seinen angsteinflößenden sowie hoffnungsvollen Facetten zu thematisieren, ist eine Aufgabe, die in vielen Büchern sowie in dem Literaturfest angegangen wird und die die unterschiedlichen Generationen nur gemeinsam, in offener, kritischer Kommunikation bewältigen können.

DENNIS REINHART

Ich studiere im Master an der LMU München Film- und Medienkulturforschung, arbeite aber nebenher auch für den Radiosender M94,5. Da der Medienbegriff natürlich auch Bücher als Medium einschließt, beschäftige ich mich, sowohl wissenschaftlich als auch journalistisch, bereits seit geraumer Zeit auf intensive Art und Weise mit literarischen Werken. Insbesondere das Thema des Erbes war für mich einer der Hauptanreize, das Festival formkritisch zu begleiten, da ich mich bereits in meinem Bachelor-Studium der Geschichte intensiv mit dem Begriff und dessen vielen Facetten auseinandergesetzt habe.

REBECCA THOSS

Ich bin Germanistin und arbeite derzeit an der LMU München an meinem Promotionsprojekt - dabei interessiere ich mich vor allem für die Literatur der Nachkriegszeit. Die kritische Blogbegleitung bietet für mich die Chance, mich mit meinen Perspektiven aktiv einbringen zu können und mit den Gästen des FORUMs direkt ins Gespräch zu kommen.

PAUL KRAUSSE

Ich bin Paul und arbeite als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der germanistischen Literaturwissenschaft der LMU. In meiner Dissertation setze ich mich mit dem Erzählen von Herkunft in der Gegenwartsliteratur auseinander. Deshalb freue ich mich sehr, das diesjährige Forum unter dem Thema ‘Erbe’ auf diesem Blog schriftlich zu begleiten.

EVA-MARIA KLEITSCH

Für die forumkritische Begleitung habe ich mich gemeldet, weil ich so (wie ich hoffe) die Möglichkeit habe, das, was ich zu den in den Veranstaltungen auftauchenden Themen denke, einem offenen Diskursraum auszusetzen (was etwas anderes ist, als Erlebnisse/Gedanken, die man ansonsten zu Dingen hat, nur monologisch oder im eingespielten Dialog mit Freunden zu artikulieren).

16.11.2023
»Menschenwürde als Aufgabe – Die Festrede Omri Boehms« - Paul Krause

Erst vor wenigen Wochen wurde Omri Boehm angefragt, ob er die Keynote der Eröffnung des Literaturfests München übernehmen könne, da der Schriftstellerin Arundhati Roy unter fadenscheinigen Gründen die Ausreise aus Indien verboten wurde. Boehm erhält zurzeit viele Anfragen, sich öffentlich zum Nahost-Konflikt zu äußern, doch mit München verbinden ihn die Jahre, die er als Postdoc an der LMU verbracht hat. Dies ist als Glücksfall zu betrachten, denn Boehm tritt an diesem Abend mit dem Ziel an, die philosophische Untermauerung zu liefern zu all den geäußerten Wünschen und Hoffnungen, was das Literaturfest und die Literatur politisch zu leisten vermögen. Mit dem Beginn der Keynote – so war bereits nach den ersten Sätzen spürbar – änderte sich das Motto des Abends im Sinne Volker Brauns: ‚Hier wird ab sofort Denken verlangt‘. Denn Boehm trat mit einem großen Projekt an. Er wollte die Thesen seines vergangenen Jahres unter dem Titel »Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität« (Propyläen Verlag // Aus dem Englischen von Michael Adrian) erschienenen Buches in 21 Minuten Redezeit präsentieren. Wir müssen Omri Boehm für diese intellektuelle Kühnheit dankbar sein. Durch seine Reinterpretation der Menschenwürde als Aufgabe aktualisiert er ein wahlweise als verstaubt oder gefährlich eurozentristisch wahrgenommenes politisches Konzept und macht es damit wieder anschlussfähig an gegenwärtige Debatten. Dem Menschen, so Boehm, komme Würde nicht essentialistisch qua seines biologischen Menschseins zu, sondern sie sei als moralische Aufgabe zu verstehen, gemäß eines Gebots der universellen Gerechtigkeit zu handeln. Genau diese Fokussierung auf das Sollen im Gegensatz zum Sein kritisierte Hegel übrigens an Kant und Fichte. Boehm versucht jedoch, anhand dieser Interpretation der Würde als Streben, ihre Unantastbarkeit zu sichern. Nähme man sie als schlichtes Faktum an, so würde sie durch den empirischen Nachweis der Unmenschlichkeit des Menschen (im moralischen Sinne) antastbar. Erst durch die kantische Verschiebung der Würde aus dem Reich der Erscheinungen, der Natur und der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit kann sie als moralischer Impetus fungieren. Dabei ist anzumerken, dass sie damit allerdings zumindest zum Teil ihre Eigenschaft verliert, Grundlage für Menschenrechte zu sein, da sie bloß noch als Potenzialität im Menschen auftritt. Das nimmt Boehm in Kauf, wenn er die Menschenwürde argumentativ weg von den Rechten in Richtung der Pflichten rückt.

Die Thesen des radikalen Universalismus werden dem Publikum also ausgiebig präsentiert – bloß die Argumentation kommt dem Rahmen entsprechend etwas kurz. So kann Boehm weder ausführen, was er unter Menschlichkeit unabhängig vom weiteren Schlagwort der Gerechtigkeit eigentlich versteht, noch kann er auf die Assoziation des Monotheismus mit dem Universalismus und des Polytheismus mit dem Partikularismus näher eingehen (oder wie er die Propheten mit ersterem und die Philosophen mit zweiterem verknüpft). Das alles kann und sollte man in seinem jüngst erschienenen Buch nachlesen. Was Boehm an diesem Abend jedoch fraglos erfolgreich gelingt, ist es, sich in eine jüdisch-deutsche Denktradition zu stellen (neben vielen weiteren Personen erwähnt er Martin Buber, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Herrmann Cohen und Hannah Arendt) und eine universalistisch argumentierende Diskursposition zu etablieren, die auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober und das Bombardement Gazas unter der Maxime blicken kann, dass das Leben der Menschen auf beiden Seiten als „gleichermaßen unendlich wichtig“ anzusehen ist. Damit hatte Slavoj Žižek vor einigen Wochen auf der Frankfurter Buchmesse noch weniger Erfolg (wenn auch mit teilweise anderer Argumentation).
Doch was Boehm letztlich durch die Komplexität seiner Rede, durch seine differenzierte Positionierung und durch die Verortung in bestehende Denktraditionen (als geistiges Erbe) veranschaulicht, ist die von Yuval Noah Harari in einem Interview mit der Zeit erhobene Forderung, dass wir uns emotionale und intellektuelle Faulheit in Anbetracht des 7. Oktober und der Folgen nicht erlauben dürfen – ‚Hier wird ab sofort Denken verlangt‘.

16.11.2023
»Die Facetten des Literaturfest Münchens« - Rebecca Thoss

Im Haus der Kunst wird das 14. Literaturfest München eröffnet und dabei zeigen sich verschiedene Sichtweisen auf die Literatur, den Literaturbetrieb und die Kunst im Allgemeinen. Dennoch kristallisiert sich ein Konsens in den Beiträgen heraus: Die Literatur ist wertvoll und muss frei sein.
Das Literaturfest wird von Tanja Graf, der Leiterin des Literaturhauses, eröffnet und der Appell an die Gäste gerichtet, einander zuzuhören – während der kommenden Veranstaltungswochen und darüber hinaus. Es mag für einen Oberbürgermeister in München naheliegend erscheinen, die Kunstfreiheit als das Merkmal einer gesunden und funktionierenden Demokratie einzuordnen. Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, ist ihm jedoch bewusst und so vergisst er in seiner Rede nicht, an die Gefahren der Geschichtsvergessenheit zu erinnern. Gleichzeitig ist eine große Kulturveranstaltung wie das Literaturfest auch eine Frage des Geldes, sie will finanziert sein – daher gilt der Dank dem bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie der bayerischen Staatskanzlei. So viel Zeit muss sein.

Interessant wird es, wenn der Verleger Klaus Füreder, der den Vorsitz des Landesverbands Bayern im Börsenverein inne hat, auf das Buch zu sprechen kommt und die Rolle des Buchs metaphorisiert. Die Bücher, die aus dem Literaturbetrieb hervorgehen, können als eine Blaupause der Gesellschaft fungieren, so meint er. Die Meinungsfreiheit mit einem Ökosystem zu vergleichen regt zum Nachdenken an. Auf der Bühne werden diese Ideen nicht ausgebreitet – dafür ist keine Zeit. Das Publikum kann sie jedoch mitnehmen und ihnen in den folgenden Veranstaltungswochen nachgehen. Das reichhaltige Programm des Literaturfests verspricht, diese spannenden Denkanstöße aufzunehmen und weiterzuführen.
Für die Monacensia, welche die Münchner Schiene konzipierte, ist es vermutlich ein Leichtes, sich des vielseitigen Themas „Erbe“ in kultureller und literarischer Hinsicht anzunehmen.
Das Potenzial von Literatur greift zuletzt der Kurator des FORUMs auf, wenn er „die Literatur als Arbeit an der Vorstellungskraft“ versteht. Mit diesem Selbstverständnis von Literatur will er im FORUM der herausfordernden Frage nach dem „Erbe“ nachgehen.

Am Ende des Eröffnungsprogramms wird es mit dem Keynotespeaker Omri Boehm philosophisch – an Kant kommt man bei ihm nicht vorbei. Er spricht als Professor der Philosophie und als jüdischer Israeli gleichermaßen. Seine Rede ist dicht und führt von den griechischen Philosophen über Kant und Nietzsche hin zu Martin Buber und Franz Rosenzweig und endet schließlich in dem ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes – das man als universell geltendes Prinzip „kontextlos verfechten sollte“. Am Ende seiner Rede bezieht er dieses Prinzip eindrucksvoll auf die aktuelle Lage in Israel und im Gazastreifen und fordert »die Leben der Menschen auf der einen Seite als unendlich wichtig zu begreifen [und] die Leben der Menschen auf der anderen Seite als gleichermaßen unendlich wichtig anzusehen“. Im anschließenden Gespräch erzählt er uns Blogbegleitern, dass die Idee des universellen Humanismus etwas sei, was er vererben wolle.
Die Frage nach dem »Erbe“ ist umfassend und nicht einfach zu beantworten, das konnte die Eröffnung in Ansätzen bereits aufzeigen. Diese vielfältigen Ideen und Eindrücke nehmen wir aus diesem Abend mit und werden sehen, wie wir sie in den Gesprächen einlösen und zu einem Ergebnis führen können.

16.11.2023
»Literaturfest München: der Anfang»

Der Terrassensaal im Haus der Kunst ist sehr breit, die niedrige Bühne an diesem Abend in der Mitte dieser Breite platziert; hinten. Die Mehrheit der gut einvierteltausendköpfigen Besuchermenge muss stehen. Stühle gibt es zwar, aber aus Fluchtweggründen dürfen die nur die Wand entlang aufgestellt werden: Wer sitzt, sieht also vor allem die Rücken der Stehenden. Wer steht, sieht immerhin mindestens den jeweiligen Kopf am Mikrophon und den oberen Teil der Leinwand.

Tanja Graf eröffnet.

Andrea Lissoni sagt, dass er sich freut, dass die Bücherschau nun wieder im Haus der Kunst stattfindet.

Dieter Reiter erklärt, dass er Meinungsfreiheit gut, Zensur schlecht findet. Das hat einen konkreten Bezug: Arundhati Roy, die eigentlich zum Literaturfest anreisen sollte, steht unter Anklage und konnte daher nicht kommen. Egal wie bleibt der vage Eindruck von unverbindlichem Wort zum Sonntag.

Klaus Füreder dankt und spricht vom Ökosystem der freien Meinungsäußerung, was man gern ein bisschen konkreter hätte, und gern ein bisschen versehen mit Überlegungen zu den Problemen, die der Literatur nicht vonseiten der Zensur erwachsen, sondern aus der Tatsache, dass es einen Literaturmarkt gibt, an den sie gebunden ist.

Nach einer knappen Stunde tritt Omri Boehm ans Mikrophon und trägt auf Englisch einen Essay vor, dessen deutsche Übersetzung in Papierform im Laufe des Vortrags auch glücklich in die Hände der Zuhörenden gelangt. Was er sagt, ist komplex, voraussetzungsreich; wäre eigentlich Anstoß zu einer mehrstündigen Diskussion. An einigen Stellen wird verfrüht geklatscht. Es ist nicht ganz klar, ob das ein Reflex auf beruhigende Konsenskategorien wie Menschenwürde ist, die im Vortrag gelegentlich auftauchen, oder bloß Ausdruck der Hoffnung, dass die Feier nun endlich ins lockere Bier-Bionade-Brezen-Stadium übergehen, dass den stehmüden Füßen Erholung zuteilwerden möge.

Die Heiterkeitseinbuße durch die mehrfach beschworenen finsteren Zeiten, die Porösität unserer Gegenwart, wie Lukas Bärfuss es nannte, bleibt gering; Malva & Band tragen das ihre dazu bei, Bionade-Brezen-Bier wohl ebenfalls, die Besucher sind gutgelaunt und bilden angeregte Grüppchen. Lesen sie Boehms Rede nach, diskutieren sie darüber? Es wäre zu wünschen, immerhin war sie dicht und ausgearbeitet und verdient, in jedem Sinne, Kritik.

Auf der Bühne allerdings war an diesem Abend noch nicht viel von Debatte zu spüren. Aber wir sind ja erst am Anfang. Harte Diskussionen, friedlich geführt hat Lukas Bärfuss sich für die kommenden Wochen erhofft - und da hoffe ich mit.

Omri Boehm bei der Eröffnung des Literaturfestes im Gespräch mit den Blogger*innen © Catherina Hess

17.11.2023
»Es sollte um Indien gehen…« - Paul Krause

Es sollte um Indien gehen – und es ging auch um Indien an diesem Donnerstagabend im Literaturhaus, an dem Arundhati Roy und Ilija Trojanow zu Gast waren. Was jedoch vermutlich am nachhaltigsten gewirkt hat, war der etwa zweiminütige Appell über den Krieg in Nahost, den Roy gegen Ende ihres Auftritts verlesen hat. Die Schriftstellerin und Aktivistin betonte, dass sie es mit Sorge beobachte, dass bestimmte Meinungen im öffentlichen Diskurs in Deutschland nicht geäußert werden dürften und sie daher die ihr hier zur Verfügung gestellte Plattform nutzen wolle, um auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung aufmerksam zu machen. Rhetorisch und diskursanalytisch ist das hochgradig interessant. Es wirkte, als ob Roy mit Widerspruch gerechnet hatte, doch der Großteil des Publikums applaudierte ihr nach Verlesen des kurzen Textes. Vielleicht sollte dieser Reaktion nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden, doch möglicherweise können wir hieran eine Verschiebung beobachten. Auch Slavoj Žižek hat vor seiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse mit Widerspruch gerechnet, als er den anfänglichen Applaus mit dem Hinweis unterbrach, dass das Publikum am Ende vermutlich nicht mehr klatschen werde – er sollte recht behalten. Wie Roy trat Žižek (ebenfalls auf einer öffentlichen literaturbetrieblichen Veranstaltung) für die Möglichkeit einer Diskursposition ein, die Gewalttaten und strategische Entscheidungen beider Konfliktparteien kritisieren können muss. Wie Roy verurteilte er klar den Angriff der Hamas und wie Roy nahm er eine Historisierung des Konflikts vor. Dafür bekam er nur sehr vereinzelt Applaus. Er wurde jedoch in der Rede unterbrochen, ausgebuht und Menschen verließen ostentativ den Saal. Nichts davon bei Roy. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass Roy vor allem als (mittlerweile juristisch verfolgte) Schriftstellerin und Aktivistin wahrgenommen wird, die sich gegen die rassistische, imperialistische und umweltzerstörerische Politik der indischen Regierung richtet. Žižek gilt da eher als »enfant terrible«, das es sichtlich genießt, den Sand der Ironie ins selbstgenügsame politische und kulturelle Getriebe zu streuen. Da hat man es schwer, wenn man es mal ganz unsatirisch ernst meint. Zudem lässt sich der Unterschied in der Rezeption auch darauf zurückführen, dass bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse deutlich mehr politische Amtspersonen vor Ort waren, die allein aufgrund ihrer Rolle scheinbar zu bestimmten Reaktionen verpflichtet sind. Dennoch: Es ist (mit den oben genannten Einschränkungen) zu beobachten (und an dieser Stelle wirklich erst einmal ganz banal zu beobachten), dass die öffentliche Haltung in Deutschland zum Krieg in Nahost am 16. November nicht mehr die gleiche ist wie am 17. Oktober.

Aber was hat Roy nun eigentlich gesagt? Sie fordert eine politische, keine militärische Lösung und wünscht sich ein friedliches Zusammenleben von Palästinensern und Israelis – so weit so Omri Boehm. Roy benennt jedoch zusätzlich explizit den israelischen Umgang mit Gaza und der West Bank als Auslöser für diesen Konflikt. Sie spricht von Besatzung und Belagerung und im Gespräch nach der Verlesung ihres Textes sogar von Genozid. Hier fragt Bärfuss explizit nach und Roy antwortet mit einer vorbereiteten Sammlung von Äußerungen israelischer Amtspersonen über die palästinensische Bevölkerung, die durchaus einer tendenziell genozidalen Rhetorik entsprechen – jüngst erst der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant, der von »menschlichen Tieren« sprach. Eine Beweisführung allein anhand der Rhetorik kann hier jedoch nicht ausreichen und dieser völkerrechtliche Maximalvorwurf bedarf einer exakteren und umfassenderen Argumentation. Die vorgenommene Historisierung des Konflikts ist sicher in Teilen zutreffend, da weder die Situation in Gaza noch im Westjordanland in den vergangenen Jahrzehnten und erst recht nicht das gegenwärtige Bombardement zu einer Abnahme des Antisemitismus führen werden, dennoch muss man unbedingt auf das Vorhandensein eines ideologisch gefestigten, islamistischen Antisemitismus in den israelischen Nachbarländern hinweisen. Auch Roys Aussage, dass die USA den israelischen Umgang mit den palästinensischen Gebieten mehr oder weniger direkt finanziere, ist richtig, doch könnte man auch darauf hinweisen, dass Joe Biden und vor allem Antony Blinken die Blockade des Gaza-Streifens durch Israel öffentlich stark kritisierten und das geringe Maß an Hilfsgütern, das Gaza überhaupt erreicht, auch auf ihre diplomatischen Bemühungen zurückzuführen ist. Es soll an dieser Stelle jedoch keine detaillierte Kommentierung von Roys Rede geleistet werden. Die interessante Beobachtung wurde längst beschrieben: Arundhati Roy hält eine öffentliche Rede, die das militärische Vorgehen Israels kritisiert und den Konflikt historisiert, ohne (Stand: 17.11.2023, 15 Uhr) eine Kontroverse auszulösen.

Nun aber zu Indien (zumindest fast): Die interessante Verbindung, die sowohl Roy als auch Trojanow zwischen Israel und Indien herstellen, ist die eines religiös begründeten Nationalismus, der beide rechtsextremen Regierungen aktuell kennzeichne. Das wird gerade in Indien rhetorisch hochgradig bigott betrieben, indem die geistige Gründungsfigur des Zionismus Theodor Herzl und der Architekt der Hindutva Vinayak Savarkar (ein Antisemit, Faschist und Hitler-Verehrer) in eine gemeinsame Tradition gestellt werden. Erhellend sind auch die Ausführungen der beiden Gäste zum RSS – dem gesellschaftlich einflussreichen radikal-hinduistischen Freiwilligen-Korps, dem auch Narendra Modi entstammt. Abseits von direkter politischer Entscheidungsgewalt regiere der RSS durch eine Mob-Kultur, die auch das kulturelle Leben durch das Stören von Veranstaltungen stark beeinflusse. Bezüglich der Parlamentswahlen im kommenden Jahr ist Roy aber alles andere als hoffnungslos. Sie sagt, dass das Kastensystem oberstes Wahlthema sein werde. Lokale Erhebungen haben kürzlich gezeigt, wie unterrepräsentiert Menschen der die Mehrheit der Bevölkerung stellenden unteren Kasten noch immer in Führungspositionen sind. Daher wird nun ein landesweiter Zensus gefordert. Dies habe, so Roy, das Potential, die rhetorisch stark auf Homogenisierung setzende Hindutva-Politik Modis ad absurdum zu führen, wenn allen vor Augen geführt wird, wie stark das Kastensystem immer noch die Verteilung sozialer Positionen bestimmt. Interessant waren auch ihre differenzierten Anmerkungen, als Lukas Bärfuss sie zur Rolle der Literatur im politischen Emanzipationsprozess befragte. Er zielte damit auf seine bereits bei der Eröffnung getätigte Formulierung von der »Arbeit an der Vorstellungskraft«. Roy wies allerdings darauf hin, dass die Literatur nicht automatisch auf der richtigen Seite stehe und es genug Personen gebe, die im Sinne der hindu-extremistischen Regierung schrieben. Dieser Hinweis ist wichtig. Literatur ist nämlich erst einmal eine wertneutrale Maschine, die sowohl verfestigen als auch verflüssigen kann. Historisch war die Suche nach einem Nationalmythos schon immer vom Wunsch der nationalistischen Homogenisierung und Konsolidierung begleitet, wie man bspw. an vielen literarischen und philologischen Bestrebungen im (damals eben nicht existenten) Deutschland des 19. Jahrhunderts sehen kann. Auch das kann ein Literaturfest leisten – nicht bloß die Feier der Literatur, sondern zusätzlich ihre kritische Reflexion.
Etwas befremdet waren Teile des Publikums übrigens von der von Lukas Bärfuss häufig wiederholten Aussage, dass wir (in Europa) nichts von Indien wüssten. Da haben sich nicht alle repräsentiert gefühlt, denn es gab offenbar auch abseits der Bühne Expertise im Raum.

Was bleibt nun am Ende dieses noch sehr unter dem unmittelbaren Eindruck des gestrigen Abends geschriebenen Blog-Beitrags? Ein Warten auf die Kontroverse oder ihr Ausbleiben und eine gesteigerte Aufmerksamkeit, wie die gemeinsamen diskursiven Fäden der ersten beiden Veranstaltungen in den folgenden Tagen weitergesponnen werden.



17.11.2023
»Sprache als Archiv – Zur abgesagten Veranstaltung mit Ayanna Lloyd Banwo« - Paul Krause

Auch wenn es sich natürlich ganz einfach gehört, Bedauern auszudrücken, wenn eine geplante Lesung ausfallen muss, so hat man doch das Gefühl, dass man bei Lesung und Gespräch mit Ayanna Lloyd Banwo über ihren Debütroman »Als wir Vögel waren« (Diogenes // Michaela Grabinger) etwas sehr Spezifisches zum Thema Erbe hätte lernen können. Im Original ist der Roman nämlich in Trinidadian English Creole oder eben trinidad-kreolischem Englisch verfasst. Diese karibische Kreolsprache entwickelte sich allmählich nach der Invasion der Briten im Jahre 1797 bzw. vor allem nach der Einführung des Englischen als offizieller Amtssprache 1823. Zuvor war Trinidad eine spanische Kolonie, die aber stark von der französischen Sprache geprägt war. Das trinidad-kreolische Englisch ist folglich über die Jahre als Kontaktsprache gewachsen, die sich vorrangig am englischen Wortschatz orientiert, aber neben weiteren Sprachen von Yoruba, Französisch, Spanisch, Chinesisch, Arabisch und dem karibischen Hindustani beeinflusst wurde. Zwar mag das folgende in der ein oder anderen Form auf jede natürliche Sprache zutreffen, doch zeigt sich an Kreolsprachen wie dem Trinidadian English Creole noch einmal verstärkt, wie eine Sprache als Archiv verstanden werden kann. In diesem Fall sind es Geschichten des Kolonialismus und der Sklaverei, aber natürlich auch des vielfältigen Kontakts auf friedlicher Basis, die in der Sprache gespeichert werden und für die Sprechenden als historisches und sprachliches Erbe fungieren. Im Text selbst sieht das dann bspw. so aus: »People don’t stop for nobody at this hour just so, sun not up good yet.« »And he is not no little boy again.« »Catherine open her eyes wide«. Was wir sehen können, sind also bspw. fehlende Tempus- und Personalformmarkierungen bei der Verbkonjugation, doppelte Negationen zur Verstärkung oder (im Vergleich zum britischen Standard-Englisch) fehlende Konjunktionen und Artikel. Nun könnte man an dieser Stelle die defizitorientierte Beschreibungsweise kritisieren. Anders ausgedrückt handelt es sich hier um Formensynkretismus – also sprachliche Verdichtung. Nachvollziehbarerweise kann so gut wie nichts davon in die deutsche Übersetzung von Michaela Grabinger übertragen werden. Jede Sprache ist ein eigenes Archiv. Hier trifft also das vielzitierte Theorem des Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan zweifelsohne zu: Lässt sich der Inhalt, der durch ein Medium vermittelt wird, offenkundig als Nachricht betrachten, so vermittelt das Medium durch seine Form selbst eine weitere Nachricht. Hier ist es vor allem die Geschichte der Entstehung des trinidad-kreolischen Englisch, das diese Doppelkommunikation realisiert. Dennoch ist jedes Sprechen und Schreiben aufgrund seiner Performativität auch eine Arbeit am Archiv und steht stets im Spannungsverhältnis von Reproduktion und freier Variation im Umgang mit dem sprachlichen Erbe. Über all das hätte man mit Ayanna Lloyd Banwo sprechen können. Nun muss man sich wohl mit meinem Text zufriedengeben oder direkt zu Banwos Buch greifen. Alternativ tut es auch Schleiermachers Hermeneutik. Wie gesagt, es ist zu bedauern.



18.11.2023
»Ein Erbe – zwei Teile« - Dennis Reinhart

Mit diesem Titel ließe sich die Veranstaltung »Erinnerung als Erbe: Die nächste Generation« des Literaturfests mit Menachem Kaiser und Barbara Yelin beschreiben. Denn ein Dialog, wie man ihn sich möglicherweise vor Beginn der Veranstaltung erhofft hatte, blieb im Endeffekt aus. Viel eher spielten die beiden Schriftsteller theoretisch auf dem selben thematischen Tennisplatz, praktisch aber auf zwei verschiedenen, bei denen nacheinander, wie bei einer Sportkonferenz im Fernsehen, hin und her geschaltet wurde.

Aber zunächst von vorn, was war überhaupt zentral für die Veranstaltung am frühen Freitagabend? Zwei Geschichten: Eine über die Erinnerungen einer Holocaust-Überlebenden, als Graphic Novel von Yelin gezeichnet (Barbara Yelin »Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung« / Reprodukt), eine über die Suche des Enkels eines Holocaust-Überlebenden nach Restitution des Erbes des Großvaters (Menachem Kaiser »Kajzer. Mein Familienerbe und das Abenteuer der Erinnerung« / Zsolnay, aus dem Amerikanischen von Brigitte Hilzensauer). Auch wenn die Bücher von Yelin und Kaiser zwei verschiedene Ansätze gewählt haben, so ist ihnen doch, neben dem Thema, eines gemein: Es ist ein Versuch, mit dem individuellen beziehungsweise kollektiven Erbe einer der, wenn nicht der größten Menschheitskatastrophe(n) umzugehen.

Und so überrascht es nicht, dass auch das Forums-Team rund um Lukas Bärfuss die Parallelen erkannt sowie das Panel mit den beiden organisiert hat, wahrscheinlich auch mit Fragen im Hinterkopf wie: Wie wichtig ist Literatur in einer Zeit, in der die Zeitzeugen mit jedem Jahr weniger werden? Oder: Wie bringt man einer jungen Generation den Holocaust näher? Die Graphic Novel über die Erinnerungen von Emmie Arbel, die von Yelin in akribischer Kleinstarbeit illustriert wurden, könnte da die Antwort sein. Doch darauf wird zu keinem Zeitpunkt auch nur in irgendeiner Weise von dem Moderatorengespann, Niels Beintker und Marie Schoeß, eingegangen. Genauso wenig wird auf den Elefanten im Raum groß Bezug genommen: Wie erleben Kaiser, der aus einer jüdisch-orthodoxen Familie stammt, oder Arbel in Haifa, den aktuellen Krieg in Gaza?

Stattdessen startet der Abend zunächst etwas irritierend: Statt auf den Inhalt der Bücher einzugehen, lesen Yelin und Kaiser erst einmal aus ihren Werken vor, ganz ohne Kontext, was auch erklärt, wieso danach zunächst nur ein vorsichtiges Klatschen zu hören ist. Und auch wenn sich Beintker danach bemüht, eine Textstelle aus dem Graphic Novel näher zu thematisieren: Hat man als Zuschauer Yelins Buch nicht gelesen, so wird man doch an der ein oder anderen Stelle Probleme haben zu folgen. Erschwert wird die Situation durch das erwähnte Tennismatch, was selbst Kaiser nach kurzer Zeit belustigt mit den Worten, es sei hier ein »sporting match«, anmerkt. Das liegt zum einen daran, dass Kaiser einen deutlich humorvolleren und leichteren Zugang zu dem aufgeladenen Thema findet, zum anderen aber auch an der Sprache: Yelin spricht mit Beintker deutsch, während Kaiser, der aus Toronto stammt, von Schoeß die Fragen auf Englisch gestellt bekommt. Noah Saavedra vom Residenztheater trägt einige Passagen aus Kaisers Buch zwischendurch virtuos vor, aber nicht auf Englisch, sondern auf Deutsch. Da das Publikum im Verlauf des frühen Abends aber erfährt, dass Yelin die Gespräche mit Arbel weitestgehend auf Englisch geführt hat, fragt man sich, wieso nicht einfach gleich die gesamte Veranstaltung auf Englisch abgehalten wurde: Statt Austausch wird hier somit allein durch die Sprache viel eher eine Abgrenzung erzeugt.

Abgrenzung ist dabei das Stichwort, denn durch diese Zweiteilung des Abends bleibt für keine der beiden Geschichten ausreichend Platz, was auch daran liegt, dass Kaiser definitiv mehr Raum zugestanden wird und sich Yelins Sprechzeit stark auf eine übermäßig lang geratene Lesung beschränkt. Es ist aber auch eine denkbar undankbare Aufgabe, nach Kaiser sprechen zu müssen, der neben seiner Karriere als Schriftsteller ebenfalls darüber nachdenken sollte, als Comedian anzufangen, so oft, wie er den Saal mit seinen Anekdoten zum Lachen bringt. Yelins ausgewählte Textpassagen wirken dabei wie ein scharfer Kontrast, bei dem die Totenstille im Publikum die Stimmung um 180 Grad dreht. Und auch nach den Textpassagen kommt kein wirklicher Dialog auf, stattdessen wird das Publikum mit Informationen noch und nöcher überladen. Während Yelin auf eine Frage von Beintker antwortet, läuft im Hintergrund ein Video ab, in dem zu sehen ist, wie aufwendig eine einzige Zeichnung ist. Doch der Mensch ist ein Wesen mit einer stark ausgeprägten visuellen Kultur, weshalb sämtliche Blicke auf das Video anstatt auf Yelin gerichtet sind – selbst der von Kaiser. So entgehen dem Publikum wichtige Informationen, die ein besseres Verständnis für Yelins Graphic Novel schaffen würden. Das ist schade, denn das Werk ist ein maßgebliches Stück Literatur, um die Erinnerung an den Holocaust lebendig und visuell anschaulich zu halten. Schließlich sei ihr Buch ein Appell dafür »Geschichte nicht Geschichte werden zu lassen« sagt Yelin auf die zentrale Frage des Abends, wie man das Erbe der Erinnerung an den Holocaust weitergeben kann.

Gerade in solchen Momenten merkt man, zu was dieser Abend fähig gewesen wäre: Etwa über die Bedeutung des Genre-Begriffs in der Literatur nachzudenken. Kaiser ringt beispielsweise mit der Frage danach, inwiefern er sein Buch in eine Art von »Holocaust-Genre« einbetten wollte oder inwiefern seine Suche nach Gerechtigkeit für den Großvater für ihn mit einer großen Menge an Unsicherheit und Unbehagen gefüllt war (»I didn´t know how to write about being sorry without saying I´m sorry.«). Was mit der Zuversicht begann, einen interessanten Austausch zweier Autoren über eines der wichtigsten Themen des 20. Jahrhunderts zu sein, endet in zwei verschiedenen Veranstaltungen in ein und demselben Raum. Wenigstens die Schlange an den Büchertischen am Ende des Abends ist lang, denn eine Vielzahl an Interessierten sucht den Austausch mit den beiden Autoren: Man kann nur hoffen, dass zumindest dort die großen Fragen gestellt werden, die im Verlauf des Abends zu kurz kamen. Und am allerwichtigsten: Dass die zwei verschiedenen Veranstaltungsteile zu einem großen Ganzen zusammengeführt werden.



18.11.2023
»Globale Erinnerungskulturen oder: Was das Publikum umtreibt« - Dennis Reinhart

Erinnerung an den Holocaust beziehungsweise Erinnerungskulturen als Ganzes, die Zweite, dieses Mal wortwörtlich nur mit zwei, anstatt mit vier Podiumsgästen. Die Wahl, die Anzahl der Sprecher im Gegensatz zur vorangegangenen Veranstaltung zu halbieren, schafft von Anfang an eine Bündigkeit, die zuvor noch schmerzlich fehlte. Dass man mit Mirjam Zadoff, Leiterin des NS-Dokuzentrums und Ronen Steinke, Jurist und profilierter, meinungsstarker Autor der SZ, zwei Personen des öffentlichen Lebens eingeladen hat, macht sich bereits zu Beginn bemerkbar. Denn die weltpolitische Lage hat sich seit der Ankündigung des Literaturfest-Programms Ende September dramatisch verändert, was durchaus verständlich macht, warum der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt zu sein scheint.

Zadoff und Steinke sind sich der Erwartungen, die auf der Veranstaltung liegen, jedoch von Anfang an bewusst. Deshalb rückt Zadoffs Buch »Gewalt und Gedächtnis« (Hanser) zunächst in den Hintergrund. Bereits Kurator Lukas Bärfuss weist eindrücklich darauf hin, dass »Erinnerungspolitik […] nicht zu Ende« gehen würde. Steinke, der trotz seines, mittlerweile an Aktualität gewonnenen Buches »Terror gegen Juden« (Berlin Verlag), ausschließlich die Rolle des Moderators einnimmt, nimmt den Steilpass von Bärfuss dankbar an, auch wenn die folgenden 90 Minuten nicht denkbar erdrückender hätten beginnen können. Er spricht davon, dass Gewalterfahrungen einen Menschen oder eine Gesellschaft als Kollektiv ein Leben lang prägen, teils sogar über ganze Generationen hinweg. Unweigerlich wird man dabei an Israels Trauma des 7.10, aber auch an das der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza denken. Steinkes journalistische Fähigkeit in der Formulierung von Gedanken zu heiklen Themen macht sich anschließend sogleich bemerkbar, indem er historisch versiert das Leid der Palästinenser und Israelis in einen historischen Kontext setzt. Dass das Thema dabei enorme emotionale Sprengkraft mit sich bringt, merkt man bereits daran, dass Steinke bei seinen Ausführungen zeitweilig merklich emotional ergriffen erscheint. So erzählt er die Geschichte von Menschen in Gaza, die sich mit Filzstiften ihre Namen auf den Arm schreiben, damit sie nach einem Raketenbeschuss im Zweifel direkt identifiziert werden können.

Doch bevor der Fokus endgültig von Zadoffs Buch verschwindet, obliegt Steinke die Aufgabe, zum eigentlichen Thema überzuleiten, was jedoch mit einem Kompromiss einhergeht: 60 Minuten würde über das Buch geredet und die verbliebenen 30 stünden für Publikumsfragen zur Verfügung. Das ist gewagt, schließlich weiß man bei dem seit Wochen hitzig diskutiert Thema nie, welche Fragen dadurch aufgeworfen werden können.
Doch zunächst wählte Steinke ein denkbar angenehmes, wenn auch nicht minder ernstes Thema zum Einstieg: Musik als Auseinandersetzung mit Themen wie Krieg, man denke etwa an Bob Dylans „Masters of War“ oder „Indochine“ der gleichnamigen Band. Doch für tiefer gehende Gedanken zu der Thematik reicht die Zeit nicht, stattdessen darf Zadoff zum ersten Mal aus ihrem Buch lesen, um so den Übergang zu den einzelnen Erinnerungskulturen zu schaffen, um die es an diesem Abend eigentlich gehen soll. Und eins muss man dem Team des Forums lassen: Selten war eine Lesung derart historisch informativ. Das liegt aber auch maßgeblich an Zadoff, die die Textpassagen so ausgewählt hat, dass stets genug für das Publikum vermittelt wird, um anschließend den Diskussionen von Steinke mit der Autorin zu folgen. Dass die beiden freundschaftlich vertraut zu sein scheinen, merkt man daran, wie selbstverständlich es für Steinke erscheint, Zadoff genau die richtigen Fragen zu stellen, die den Finger in die Wunde legen. Etwa bei dem Punkt der deutschen Erinnerungskultur, bei dem man sich zurecht die Frage stellen muss, ob die „Staatsräson Israel“ und die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit nicht eher damit zu tun haben, sich als Staat oder Unternehmen nun strahlender und geläuterter denn je zuvor zu präsentieren. Die Frage ist berechtigt, doch wenn Steinke von einer Art von Selbstzufriedenheit beim Erinnern spricht, bleibt fraglich, inwiefern diese Aussage im Angesicht der weltweit steigenden antisemitischen Straftaten noch haltbar ist.

Und so sehr es Freude bereitet, dem Austausch der beiden beizuwohnen, so fällt doch auf, dass Steinke teils etwas ungelenk agiert, wenn es darum geht, zu einem neuen Aspekt des Buchs überzugehen. Hier wäre es wünschenswert gewesen, man hätte sich aus dem vermeintlich zuvor abgesteckten Zeitplan gelöst und hätte ein oder zwei Themen weniger angeschnitten. Denn so anregend wie der Dialog zum Zuhören war, so durchgetaktet wirkte er: Texte brauchen kurze Pausen, in denen das Gesagte in den Köpfen der Zuhörer nachklingen kann, doch stattdessen hetzte Steinke von einem Programmpunkt zum nächsten, ganz ohne Rücksicht auf Verluste. So stellt er im Verlauf eine der Fragen, die ebenfalls den gesamten Abend hätte füllen können, inwiefern die einzelnen Erinnerungskulturen, die Zadoff in ihrem Buch beleuchtet, verknüpft werden könnten, der »Versuch, eine globale Sprache des Erinnerns zu finden.«

Diese Antwort ist zugleich eine der spannendsten und zugleich problematischsten des Abends: Interessant deshalb, weil Zadoff eine Reise durch die Erinnerungskulturen verschiedener Länder und Gruppen unternimmt, etwa zu den Herero und Nama in Afrika, die eine mündliche Erinnerungskultur haben oder sogar gar keine Erinnerungen an die jeweiligen Massaker an ihre Nachkommen weitergeben – ein teils stillschweigendes Erbe also. Zudem spricht Zadoff im Verlauf auch vom Besuch eines Museums, dass sie in der Ausgestaltung an das Gedenkzentrum in Auschwitz und dem Gedenken an den Holocaust erinnerte. Darauf angesprochen, antwortete ihr ein Mitarbeiter des Museums, dass das Gezeigte das wäre, was die Leute sehen wollten. Ein »globales Storytelling über Gewalt«, wie es Zadoff treffend auf den Punkt bringt. Sie selbst übt dabei Kritik an dieser Art von Vorgehen, versucht aber auch Verständnis für das Vorgehen des Museums aufzubringen, was in dieser Hinsicht durchaus fragwürdig erscheint. Denn wenn man sich an Auschwitz orientiert, raubt man dadurch dem Holocaust nicht seine Einmaligkeit der Grausamkeit? Gerade mit dem weltweit erstarkenden Antisemitismus, ebenso wie Rassismus gegen ethnische Minderheiten, muss man sich natürlich zurecht die Frage stellen, ob die Erinnerungskultur in der aktuellen Form gescheitert und ein Umdenken nötig sein muss.

Auch die Frage danach, ob jedes kulturelle Gedächtnis einzigartig ist, oder ob es doch verbindende Punkte gibt, die eine gemeinsame Sprache der Erinnerung erzeugen würden, stellt sich. Doch dadurch dürfen essenzielle Besonderheiten einzelner Kulturen nicht unter den Tisch fallen, denn der Völkermord an den Armenieren durch das Osmanische Reich kann nicht mit dem Holocaust in einen Topf geworfen werden – aber man kann wenigstens mit Veranstaltungen wie dieser den Versuch leisten, erste Ansätze zu entwerfen, ob utopisch oder nicht.
Und auch die letzten 30 Minuten, die dem Publikum gebühren, sind von der Aktualität des Themas dominiert: Etwa, was Erinnerungskultur leisten kann, was Zadoff mit den Worten einer »Form der Sensibilisierung« beantwortet. An diesem Punkt merkt man dabei auch Steinkes Bedürfnis, auf die Publikumsfragen zu antworten. Er spricht von den Grenzen der Erinnerungskultur, da ein Besuch eines KZs den Schulklassen zwar ein historisches Bewusstsein schaffen könne, aber antisemitische Ressentiments nicht zwingend dadurch abgebaut würden.

Den entscheidenden Impuls des Abends liefert dabei jedoch ein Zuhörer, der sichtlich emotional seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck bringt, dass die Bundesregierung sich gegen Antisemitismus und Homophobie, aber nicht in gleichem Maße gegen Rassismus stark machen würde. Diese Frage erhitzt die Gemüter und führt dazu, dass Zadoff betont, wie wichtig es in der aktuellen Zeit sei, sich sowohl gegen Antisemitismus als auch Rassismus im Allgemeinen stark zu machen. Steinke wiederum führt die Publikumsfrage gekonnt weiter und zeigt schlüssig auf, inwieweit der Vorwurf, dass deutsche Politiker sich nicht trauen würden, Israel zu kritisieren, haltlos sei. Dabei denkt man augenblicklich an eine Formulierung, die Zadoff kurze Zeit vorher auf den steigenden Antisemitismus in Deutschland, getroffen hat, welche sich aber auch problemlos auf den ebenfalls verbundenen Anstieg allgemeinen Rassismus übertragen lässt: »Das ist eine Krise der Demokratie.« Und so bleibt Steinke am Ende nur der Hinweis darauf, man könne die Diskussionen im Foyer und bei den Büchertischen im Anschluss weiterführen, denn die Zeit sei nun um. Doch die Gedanken, die oftmals nur angerissen wurden, bleiben. Wie Steinke schon im Verlauf des Gesprächs einmal sagte: Es gibt durch das Gespräch »eine Menge zum drüber nachdenken« – treffender hätte man es nicht formulieren können.



19.11.2023
»Im Falschen. Zum Symposion Giftiges Erbe - brauchen wir einen Kanon? Über den Umgang mit Klassikern« - Eva-Maria Kleitsch

Ein viergeteilter Abend, und de facto noch viel zersplitterter als sein Programm. Er fing an mit einem Vortrag über ästhetische Grundfragen; ging weiter mit einem Einblick in die Produktion der von den Kammerspielen inszenierten Antigone in leichter Sprache (mit Lesung einer Stück-Passage in drei verschiedenen Übersetzungen durch Johanna Kappauf). Nach der Pause: Ein Auszug aus Sivan Ben Yishais Ibsen-Bearbeitung »Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert«, vorgetragen von der Autorin; anschließend wurde sie von Lukas Bärfuss interviewt. Am Ende des Abends dann kam die Diskussion »Wohin damit?«, die an die Petition der Lehrerin Jasmin Blunt gegen Koeppens Buch »Tauben im Gras« als Abitur-Pflichtlektüre in Baden-Württemberg anknüpfte. Das Publikum, insgesamt reichlich vorhanden und mit der Aufmerksamkeit erkennbar bei der Sache, wurde bei dieser Debatte noch etwas lebhafter als zuvor, murmelte Zustimmendes oder Ablehnendes. Dass der Abend eine Stunde länger gedauert hat als im Programm angekündigt, ist ein Zeichen von Sachlichkeit. Dass die Debatte insgesamt dennoch abgeschnitten, vielleicht sogar: nur angeschnitten wirkte, liegt an ihren Inhalten.

Über ein derartig vielgestaltiges Gebilde einen Block Fließtext zu schreiben, ist mir nicht möglich; schon gar nicht im kurzen Format. Ich werde also Splitter schreiben, Textfetzen, ungerecht in der Verteilung der Aufmerksamkeit. »Nora« und »Antigone« fallen hier leider unter den Tisch; das ist kein Werturteil, ich schreibe der Dringlichkeit der Themen folgend, so, wie sie sich mir darstellt. Es ergibt sich auch daraus, dass beide Stückauszüge als künstlerische Texte eine ganz eigene Form der Aufmerksamkeit bräuchten.

1
An der Debatte, die den vierten Teil des Abends bildete, nahmen teil: Moderatorin Olivia Ebert, Lukas Bärfuss, Jasmin Blunt, Carola Lentz, Jürgen Kaube und Andrea Geier. Jasmin Blunt erklärte, ihre Petition richte sich nicht gegen Koeppen-Lektüre als solche, sondern gegen die Verpflichtung, speziell dieses Buch als Abiturstoff mit einer Klasse lesen zu müssen. Sie begründete das einerseits mit dem im Buch irgend-vorhandenen Rassismus (ob nun nur als Thema vorhanden oder auch als Tendenz); andererseits damit, dass das Buch als Abiturstoff für 17jährige Schüler eines Gymnasiums mit technischer Ausrichtung nicht das Richtige sei, weil es sehr komplex gebaut, schwierig, voraussetzungsreich ist. Was den letzten Punkt anging, stieß Blunt auf keinerlei Widerspruch.

Die Frage nach dem Rassismus zerfällt und zerfiel auch in der Debatte: Ist der Roman rassistisch? Ist er kritischer literarischer Ausdruck von Rassismus als real existierendem gesellschaftlichen Phänomen? Macht er rassistisch? und: Reproduziert er für Menschen, die selbst Erfahrungen mit Rassismus gemacht haben und machen, diese Erfahrungen?
Blunts Aufmerksamkeit beim Symposion galt im Prinzip nur der letzten Frage, und diese Frage stellte sie, das Terrain noch einmal verengend, praktisch nur für die Situation im Klassenzimmer. Ihre These ist, wenn ich sie richtig verstanden habe, dass die Begegnung mit dem im Roman enthaltenen Rassismus für diejenigen, die in der Realität rassistischen Perspektiven, Übergriffen usw. selbst ausgesetzt sind, einen Nachteil in der Unterrichtssituation schafft. Weil die auf diese Weise „Betroffenen“ durch die Konfrontation einerseits potenziell exponiert werden, und weil ihnen das andererseits die analytische Neutralität gegenüber den Lerninhalten erschwert, die ihnen die Institution Schule, speziell in der Lern- und Prüfungssituation, abverlangt.

Ich habe Einwände gegen Blunts Standpunkt oder eher: Perspektive. Ich teile aber die meisten Einwände, die im Rahmen der Debatte fielen, nicht. Carola Lentz‘ unterschwellig polemische Frage etwa, ob Blunt in Bezug auf die Darstellung anderer Gruppen in der von ihr in der Klasse gelesenen Literatur ebenso sensibel sei (ich paraphrasiere sinngemäß, ich habe den genauen Wortlaut nicht vorliegen), halte ich für verfehlt: Erstens, weil nicht alle möglichen Gruppen die gleichen Bedingungen haben, die sie als Gruppen erst konstituieren; zweitens, weil bei diesem Einwand die Suggestion (oder Furcht) durchschimmert, dass hier jemand vielleicht ein paar Gramm Rücksicht oder Aufmerksamkeit mehr beansprucht, als ihm quasi „zusteht“. Das akzeptiert aber gerade jene Prämissen Blunts, die ich kritisieren würde, und baut darauf eine Art Interessenkonkurrenz auf. Darum kann es nicht gehen. Auch nicht um ein formelhaftes Ausspielen des „Schönheitsgesichtspunktes“ gegen ideologisch Problematisches in Werken.

2
Einwand eins:
Von ihrem Standpunkt als Lehrerin aus kann Blunt die Institution Schule zwar einer punktuellen, nicht aber einer grundsätzlichen Kritik aussetzen. In ihrer Forderung „Bildung muss diskriminierungsfrei sein“ drückt sich der Glaube aus, dass dies unter den konkreten Bedingungen und Anforderungen, unter denen Schule steht, möglich sein könnte; darüber hinaus letztlich der Glaube, Schule könne eine ethisch unbedenkliche Angelegenheit sein. Der Bildungsauftrag der Schule meint aber unter gegebenen Bedingungen immer auch Selektion und Verdinglichung. Schule ist ein Zulieferbetrieb für den Arbeitsmarkt; sie spuckt Individuen aus, deren Können und Nichtkönnen einem Messverfahren unterworfen worden ist, welches es ermöglicht, „Können“ in Zahlen auszudrücken. Diese Zahlen, Noten genannt, sind dazu da, Ungleichheiten formalisiert auszudrücken und wirksam zu machen. Das in der Schule vermittelte Wissen ist nicht selbstzweckhaft und geht nicht in so schönen Dingen wie Persönlichkeitsentwicklung, Charakterbildung und Heranbildung von Reflexionsvermögen auf. Dieser verdinglichende Aspekt von Schule steht in einer unauflösbaren Spannung zu den mehr oder weniger menschlich-ethischen Facetten, die Schule auch haben mag. Blunts Perspektive erscheint daher kritischer, als sie eigentlich ist.

3
Einwand zwei:
Blunts Indifferenz dagegen, was der Roman will, wie er es will, was er ist, wie man ihn lesen kann usw. ist einerseits das Ergebnis ihres aufs Klassenzimmer beschränkten Anspruchs (und insofern nachvollziehbar). Zugleich spiegelt er aber auch zwei Aspekte wider, die mir für das Diskursfeld, aus dem Blunt heraus argumentiert, charakteristisch zu sein scheinen (und problematisch): Erstens eine Perspektive, die neuralgisch auf Einzelworte oder Themensegmente reagiert, aber wenigstens teilblind gegen Strukturen ist; zweitens eine Verschiebung der Sensibilität (oder auch Verletzbarkeit) von der realen auf die symbolische Ebene bzw. die schlichte Überbetonung und Überschätzung der letzteren.
Wenn eine der als Publikumsstimme/Chor agierenden „Zwischenruferinnen“ vom Deutschlandfunk in Bezug auf das in Koeppens Roman häufig vorkommende (von ihr umschriebene) Wort „Neger“ sagt, sie könne „es nicht mehr lesen“, so ist das etwas anderes als die schlichte, von mir geteilte ideologiekritische Aussage, dass der Begriff von Menschen antirassistischer Gesinnung nicht sinnvoll als Bezeichnung von Menschen zu gebrauchen ist. Die Reaktion der „Zwischenruferin“ ist auch nicht einfach „übertrieben sensibel“ (eine Zuschreibung, die mir in solchen Kontexten schon häufiger untergekommen ist, und die nicht das trifft, was ich meine). Vielmehr scheint sie mir sowohl eine Verwechslung von Zeichen und Bezeichnetem auszudrücken, als auch Teil des Versuchs zu sein, sich den bedenkenlosen Konsum von Kulturerzeugnissen (und kulturindustriellen Produkten) durch Vermeidung von Bösworten zu sichern. Als wären die Bösworte ein Filter, in dem sich alles Bedenkliche gesammelt verfängt, und wenn man den Filter wegwirft, ist man das Bedenkliche los. Aber so ist es ja nicht.
Spätestens, wenn ich den Klassenzimmerhorizont überschreite, kann ich nicht mehr ernsthaft die Frage ins Zentrum stellen, ob Verletzungen durch Literatur reaktualisiert werden oder nicht - denn spätestens dann ist das primäre Problem die rassistische Realität, und die Literatur oder Literaturkritik im besten Fall das, was sie aussprechbar macht. Jenseits des Klassenzimmers scheint mir die Frage danach, welches Bewusstsein, welche Perspektiverweiterung (oder aber: welche Stereotypenzementierung) Literatur leistet, wesentlich wichtiger als die Frage, welche Verletzungen reaktualisiert werden. Mindestens jenseits des Klassenzimmers ist die rassistische Denkstruktur, die beispielsweise Harry Potter bedient und die darin besteht, dass Gruppen bedenkenlos mit anscheinend nicht sozial produzierten Kollektiveigenschaften ausgestattet werden, deutlich problematischer als das bloße Vorhandensein von Bösworten in Texten von reflektierterer und weniger leichtverdaulicher Machart.

4
Der Gedanke, dass das Vermeiden von Bösworten oder „Toxischem“ etwas hilft, geht vom guten Ganzen aus, das übrigbleibt, wenn das Schlechte entfernt ist. Ein Denken, das das Ganze als das Unwahre annimmt, welches die einzelnen schlechten Phänomene, Denkweisen, Einzelhandlungen produziert, nicht deren Resultat ist, kann nicht auf solche Hygienemaßnahmen setzen.
(Es ist pessimistischer, hilfloser; es produziert auch nicht unmittelbar anwendbare Handlungsratschläge.)

5
Ziel: Nicht den Mittelweg zwischen Scylla und Charybdis zu wählen, sondern einen ganz andern; am besten einen an beiden vorbei.

6
Zurück zur Frage nach dem Kanon.
Hier ist mir im Gedächtnis geblieben, was Jürgen Kaube gesagt hat: Dass der Kanon sich retrospektiv herstellt, dass er nicht durch Universitäten etabliert wird, sondern durch die Schulen, Verlage, das Publikum, den Markt. Eine solche Perspektive auf den Kanon ermöglicht es vielleicht eher, sich zu ihm kritisch zu verhalten, kritisch nicht im Sinne der Reform seines Bestandes, sondern durch eine Bezugnahme auf das, was er enthält und wie er entstanden ist; ermöglicht also eine Herangehensweise, die sich nicht zwischen den schlechten Alternativen von Ignoranz vs. Gipsbüstenklassikerehrfurcht aufreibt.

7
In seinem Eröffnungsvortrag hat Albrecht Koschorke den Gegensatz von zwei Logiken, zwei Perspektiven auf Kunstwerke aufgemacht, die seiner Ansicht nach beide ihr Recht haben, aber quer zueinanderstehen. Logik 1: Eine auf Kants interessenlosem Wohlgefallen und die von ihm angenommene subjektive Allgemeingültigkeit des Kunstschönen aufbauende Perspektive. Dieser Logik schreibt Koschorke zugleich elitäre Hochkultur- und Hegemonietendenzen zu, wie auch die Bereitschaft, das Werk – als heilig oder göttlich – auf sich wirken zu lassen und sich ihm auszusetzen, also die „Autorität des Werkes“ anzuerkennen. Logik 2: Eine Perspektive, die von der (Kulturgut-Kauf-)Entscheidung der Rezipienten, ihren vielfältigen Gruppenzugehörigkeiten, Bedürfnissen usw. her urteilt. Dieser Logik schreibt Koschorke zugleich „demokratische und emanzipatorische Impulse“ wie auch Marktförmigkeit zu.
Da ist vieles zusammengebündelt, das einander widerstrebt; und zugleich wird eine Alternative aufgemacht, zu der man sagen muss: Tertium datur. Weder ist die Befriedigung der unmittelbaren (durch die jeweilige reale soziale Lage ja erst zustandegekommenen und diese also notwendig auch tragenden und stützenden) Bedürfnisse der zur Zielgruppe degradierten Lesenden/Buchkäufer mit emanzipatorischem Gehalt zu verwechseln. Noch ist der Primat des Werkes (seine Geltung, sein den Rezipienten zwingender Charakter) ans begriffslos bleibende Allgemeine, das vom konkreten Sozialen losgelöste Irgend-Schöne gebunden. Ausgeführt findet sich ein Drittes (kein Mittelweg, sondern ein Anderes) in Adornos »Ästhetischer Theorie«, komprimiert vielleicht im Satz: »Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form« (S. 16, Suhrkamp 2003).

8
Und wenn ich schon bei Adorno bin: Vielleicht kann auch die Aussage »Der Bürger wünscht sich die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser« (S. 27, Suhrkamp 2003) in diesem gesamten Debattenfeld weiterhelfen; nämlich, wenn man sie variiert zur Aussage, dass die Heilung der Sprache und Literatur in einer heillosen Welt ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen ist. Im besten Fall ein bloß vergebliches Bemühen, im schlimmsten Fall ein die Wirklichkeit mit einem falschen Schein des Heilen verschleierndes Projekt.

9
Was mir noch auffiel: Wie oft während des Abends das Wort »Experte« fiel. Es hat etwas Irritierendes, dass Leute auf »Experten« vertrauen, die sich in puncto Kanon autoritätskritisch geben.

10
Das Alles ist unbefriedigend und so gar kein Ganzes: Die Debatten, die Lage, dieser Text hier.
Aber auch das hat vielleicht ein Moment von Sachlichkeit, weil es wenigstens das Schüler- und Konsumenteninteresse enttäuscht, man habe hier mal aber »was mitnehmen« können, das man sich als Motto und Stundenfazit ins Poesiealbum schreiben kann.



20.11.2023
»Giftiges Erbe« - Lillemor Pauli

Beginn
»Der altgriechische Ausdruck Symposion […] steht sinngemäß für ,gemeinsames, geselliges Trinken‘«, erklärt Wikipedia, wenn man die Bedeutung des Wortes Symposion online nachschlägt – beispielsweise um herauszufinden, was die Zuhörenden bei der Veranstaltung »Giftiges Erbe – Brauchen wir einen Kanon?« am 18.11.2023 erwarten möge. Und welche Szenerie könnte besser zu diesem Programmpunkt des Literaturfests passen als eine Bühne in dem Schauspielhaus der Kammerspiele München, auf der eine Bar rekreiert ist? Die Tische, Stühle und Gläser stehen bereit, sie scheinen fast so gespannt auf die sich anbahnenden Diskussionen zu warten wie die Gäste. Bei einer Begrüßung spricht Lukas Bärfuß, welcher gemeinsam mit Olivia Ebert den Abend moderiert, über das Theater als eine Institution der Erinnerung. Dass dies als Funktion nicht ganz ausreicht, sondern wichtige Aspekte wie die der Verarbeitung und Anpassung auslässt, wurde mir als Zuschauerin im Laufe der Programmpunkte zunehmend klarer. Doch bevor wir zu eilig voranschreiten, ist es wichtig, das Thema des Abends kurz zu beleuchten: Der Kanon stand wie eine Gravitationsquelle, zu der man immer wieder hingezogen wurde, im Zentrum der Diskussionen. Dennoch wurde deutlich, dass unterschiedliche Vorstellungen von der Bedeutung des Wortes ein Gespräch darüber erschweren. Was schließt ein solcher Kanon ein und wie weit ist er verpflichtend? Inwiefern ist er mit literarischer Bildung verknüpft? Ist es dann das Wissen über den Kanon oder innerhalb des Kanons, das als geteiltes Kanonwissen gilt? Und, wahrscheinlich die Frage, die vor allen anderen steht und diese maßgeblich beeinflusst: Wer entscheidet darüber? Diese Fragen wurden im Laufe der Veranstaltung diskutiert und thematisiert. Auch wurde dank der Zwischenruferinnen Susanne Burkhardt und Elena Philipp schon anfangs offensichtlich, dass der Großteil der Zuschauenden die schon im Titel gestellte Frage „Brauchen wir einen Kanon?“ zumindest zu Beginn der Veranstaltung mit einem »Ja« beantworten würde.

Keynote: Harmonie oder Herrschaft
Albrecht Koschorke diskutierte im Anschluss in seiner Keynote »Harmonie oder Herrschaft« den Kanon aus unterschiedlichen Perspektiven. Da meine Kollegin eingehender auf diesen Programmpunkt eingehen wird, will ich hier nur herausgreifen, dass er die Frage danach, wer den Kanon bestimmt, beantwortet mit: Alte, weiße Männer. Die Unterrepräsentation von Frauen, People of Colour, queeren Menschen und anderer Minderheiten ist zentral in der Kanondebatte und es hat mich sehr gefreut, dass ein – entschuldigen Sie, Herr Koschorke – alter weißer Mann dies so offen anspricht. Dass sich mehr Bevölkerungegruppen repräsentiert sehen wollen, ist meiner Meinung nach verständlich und dem sollte unbedingt nachgegangen werden. In der Keynote wurde das später immer wieder aufgegriffene Bild eines Priesters und eines Marktes geschaffen, wobei der Priester die Orientierung des Kanons am Werk, am Objekt und dessen Qualität darstellt, die nahezu religiös verehrend wirkt, und der Markt im Gegenzug eine Demokratisierung des Kanons repräsentiert, die das Subjekt in das Zentrum der Kanonwahl setzt, aber die Gefahr birgt, dass jedermann in seiner ‚Bubble‘ bleibt und die Horizonte nicht erweitert werden. Albrecht Koschorke stellt die Spannung zwischen diesen Instanzen heraus und beschreibt Verbindung der beiden als eine Art Pendelbewegung. In der Diskussion, die später ausführlich beschrieben wird, wendet Jürgen Haube aber ein, dass sowohl der wörtliche als auch hier bildliche Markt die Priester wohl beeinflusse: Was gekauft wird, wird weiterproduziert und bleibt erhalten. Auch ich sehe den Sachverhalt etwas anders als Herr Koschorke und muss fragen, ob nicht ein gemeinsamer, tatsächlich demokratisch gewählter Kanon deutlich mehr horizonterweiternd wirken kann als die Werke, die – vor allem in Schulen – unreflektiert gelesen werden, weil sie halt wichtig sind, weil sie halt im Kanon sind. Bei den sich anschließenden Zwischenrufen wurde die Bedeutung von Literatur, die wir noch nicht kennen, weil sie aus anderen Kulturkreisen stammt, ins Spiel gebracht. Und hier stimme ich aus vollem Herzen zu; Obwohl ich denke, dass ein Kanon als Orientierungshilfe in unserer Gesellschaft des Überflusses notwendig ist, wohnt dem jetzigen System eine Starrheit inne, die einem guten Kanon im Weg steht. Eine kleine Schlussanmerkung: Es war manchmal nahezu humoristisch, Albrecht Koschorkes Ausführungen mit dem Wissen im Hinterkopf, dass danach über Leichte Sprache gesprochen werden würde, zu folgen.

Antigone in leichter Sprache
Die sich anschließende Lesung der Schauspielerin Johanna Kappauf hat mich begeistert. Die junge Frau hat die Ausschnitte aus der »Antigone« mit einer Ausdrucksstärke und Intensität vorgelesen, die die Zuschauenden an ihren Lippen hängen ließ. Obwohl die Übersetzungen unterschiedlich komplex waren und so das Thema der Leichten Sprache dargestellt werden sollte, kam ich kurz darüber ins Sinnieren, ob nicht jeder noch so komplizierte Text zumindest leichtER wird, wenn er so toll vorgetragen wird. In einem anschließenden Interview spricht sich Johanna Kappauf dafür aus, Leichte Sprache auch im Theater zu nutzen, da der Inhalt so für alle zugänglicher wird und mehr in den Fokus gerät. Anne Leichtfuß, die danach zusammen mit Markus Janka die Podiumsdiskussion führte, zeigte auf, wie viele Menschen in Deutschland Leichte Sprache gebrauchen würden: 14 Millionen. Ich möchte es noch einmal wiederholen: 14 Millionen. Und trotzdem wurde das Theater dafür kritisiert, ein Stück in leichter Sprache aufgeführt zu haben, da das Nicht-Verstehen dazugehöre und die Qualität reduziert werde. Hier kommt schon ein Thema auf, das an späterer Stelle der Veranstaltung erneut essenziell werden würde: Menschen, die nicht Teil einer betroffenen Gruppe sind, versuchen, darüber zu bestimmen, wie mit den Schwierigkeiten der jeweiligen Gruppen umgegangen wird. In der Pause kam ich mit Zuschauenden ins Gespräch, die die Meinung vertraten, Übersetzungen in leichter Sprache seien überflüssig. Obwohl ich zustimme, dass man auch etwas aus Theater mitnimmt, wenn man sprachlich nicht alles versteht und dass ein Stück so konzipiert sein muss, dass alle Zielgruppen etwas mitnehmen, fiel zwischendurch die Aussage »Aber jeder hat ja Beeinträchtigungen!« und ich muss sagen, dass ich geschockt war (nicht das letzte Mal an diesem Abend). Lassen Sie mich das in einen überspitzten anderen Kontext bringen: Sagen wir, ich bin letztens hingefallen und mein Knie schmerzt. Und dann sage ich: »Naja, aber Rampen sind ja noch lange nicht notwendig, ich finde nicht, dass die Rampe zum Theater gebaut werden sollte.« Übertrieben dargestellt? Ja. Aber manchmal muss man Thematiken so deutlich machen, die übersehen werden. Wie viel jemand aus einem Theaterstück mitnimmt, weil kognitive Fähigkeiten eingeschränkt sind, ob nicht eher Frustration, Trauer und ein Gefühl der Isolation bleibt, ist weniger sichtbar als, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ein Problem aufgrund eines fehlenden physisch barrierefreien Zugangs. Als Person, die von diesem Problem nicht betroffen ist, hat man meiner Meinung nach nicht das Recht, Leichte Sprache zu verdammen – denn sie ist einfach die behindertengerechte Gestaltung von Theater. Und auch unabhängig von diesem Aspekt ermöglicht Leichte Sprache einen besseren Zugang zu den Inhalten, auch Menschen, die Theater auch unabhängig von Beeinträchtigungen, sondern beispielsweise aufgrund anderer Bildungshintergründe nicht verstehen. Aus dem Publikum kam nach der Diskussion noch der Hinweis auf den Podcast »Nachrichtenleicht«, der Nachrichten im Wochenrückblick in Leichter Sprache präsentiert (übrigens das einzige Angebot in dieser Richtung) und der als Empfehlung an Sie, liebe Leserschaft, direkt weitergeleitet wird.

Ibsens Nora: Prolog
Nach der Pause las Sivan Ben Yishai ihre Überschreibung der Nora vor, wobei »vorlesen« für diese Vorführung eigentlich zu kurz greift. Leider gingen die vielen wichtigen Punkte, die sie in ihrem Text anspricht, vor allem aufgrund der darauffolgenden Debatte etwas unter. Ich hätte etwas mehr Raum gebraucht, um die Darbietung zu verarbeiten, und hätte mir vor allem hier sehnlichst gewünscht, mehr Zeit für diese besondere Autorin und diesen besonderen Text zu haben – ganz geradehaus vor allem deswegen, weil mich das Werk mit lauter Fragezeichen hat sitzen lassen. Ganz ehrlich, ich habe es geliebt. Doch leider kann ich hier nicht so darauf eingehen, wie es Sivan Ben Yishai und ihr »Nora: Prolog« verdient haben. Wer weiß, vielleicht bekomme noch einmal die Gelegenheit, das Stück zu sehen oder zu lesen; ich würde es mir sehr wünschen.
In dem darauffolgenden Interview zeigt sich die Autorin offen und, als das Gespräch die Thematik des 07. Oktobers streifte, auch verletzlich. Auch sie spricht an, dass die »universal voice [die Entscheidungen trifft] a vertain voice, face, body« hätte, und zwar den der alten weißen Männer. Doch auch kritisiert sie einen Feminismus, der das System nicht ändert, sondern als Werkzeug von jenen eigennützig ausgenutzt wird, die es sich leisten können und nicht die Missstände, sondern höchstend ihre eigene missliche Lage ändern wollen.

Wohin damit?
Kommen wir zum Pulverfass des Abends. Die Diskussion mit den sechs Teilnehmenden Jasmin Blunt, Andrea Geier, Carola Lentz und Jürgen Knaube als Gäste sowie Lukas Bärfuß und Olivia Ebert als Moderierende begann mit Buchempfehlungen und thematisierte erneut den Kanon, mit wiederholter Bezugnahme auf die Keynote. Wichtige Punkte wurden genannt, beispielsweise wurde Zäsur bei der Kanonbildung angesprochen und herausgehoben, dass eine Kanondiskussion über den zeitaktuellen Kanon schwierig sei, da ein Kanon immer erst im Nachhinein gebildet werden würde. Andrea Geier warf auch die Frage auf, was das ‚Kennen‘ eines literarischen Kanons denn beinhalte: Vertrautheit mit dem Inhalt? Dass man das Werk gelesen habe? Dass man den Namen gehört habe und ein Buch zum Kanon zuordnen könne? Letztendlich käme es darauf an, ein Kanonwissen teilen zu können, das eng mit dem kulturellen Erbe verknüpft sei – was natürlich nicht die Frage beantwortet, was der Kanon zu enthalten habe, aber die teilweise sehr hohen Ansprüche des Kanons in Perspektive rückt.
Das Gespräch wurde auf Koeppens Roman »Tauben im Gras« gelenkt, da die Lehrerin Jasmin Blunt eine Petition initiierte, um dieses Werk aufgrund seiner rassistischen Inhalte als Pflichtlektüre in den Schulen Baden-Württenbergs zu streichen. Sie stellt bei ihrer Begründung auf der Bühne heraus, dass dem Lesenden wenig Raum zur Differenzierung bleibt und im Schulkontext für eine Aufklärung über die rassistischen Inhalte (unter anderem die über hundertfache Nennungen des N-Wortes) keine Zeit gelassen wird. Außerdem könne der Inhalt die Schulkinder, die selber unter Rassismus leiden, in ihre Traumata zurückwerfen, was den Betroffenen noch zusätzlich dazu, dass dunkelhäutige Klassenmitglieder bezüglich dieses Themas sowieso, wie auf dem Präsentierteller stehen, eine normale Beschäftigung mit dem Werk erschwert. Es blieb kaum Zeit für mich, mich zu wundern, wieso die Regierung überhaupt Werke vorschreibt und diese Entscheidung nicht den Lehrkräften überlässt, die ihre Klasse doch am besten kennen. Zuerst schien im weiteren Verlauf der Diskussion der Konsens zu bestehen, dass Tauben im Gras für den Schulkontext ungeeignet sei und auch als Aufklärungsmedium bezüglich Rassismus nicht verwendet werden solle. Dann drehte sich das Gespräch allerdings in die unangenehme Richtung, dass Carola Lentz darüber monologisierte, dass man ein Werk doch auch nur aus ästhetischer Perspektive betrachten können solle und dass Tauben im Gras ein tolles Buch sei; aus einer eigenen Meinung entwickelte sich allerdings rasant die Aussage, dass man die Klasse nicht in Watte einpacken sollte und es wurde trotzig nachgefragt, ob denn jedes Werk auf solche »Sensibilitäten« abgeklopft werden würden. Mein Entsetzen spiegelte sich in den auditiven Reaktionen des Publikums. Jetzt saß Jasmin Blunt tatsächlich auf der Bühne und musste sich als schwarze Frau dafür rechtfertigen, dass sie rassistische Stereotype und Sprache nicht in der Schule präsentieren will. Sie musste sich erklären lassen, dass es eine Sensibilität sei, die sich dunkelhäutige Kinder und Jugendliche nicht zugestehen dürften. Während meine Kinnlade noch am Boden hing und selbst mein stoischer Sitznachbar, der sich im Laufe des Abends von nichts beeindruckt zeigte, ein verächtliches Schnauben hören ließ, ergriff (anstelle der Moderator_innen) Andrea Geier das Wort und zeigte offen, dass auch sie mit Carola Lentz‘ Position nicht einverstanden war. Ich muss gestehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon so erregt und investiert war, dass mein Block nahezu vergessen auf meinem Schoß liegengeblieben war (die einzige Notiz zu dieser Stelle ist: »Andrea Geier schreitet ein!!«). Als das Gespräch dann dem Publikum geöffnet wurde, bezog auch Susanne Burkhardt eindeutig Stellung und drückte, dem zustimmenden Applaus zufolge, die Ungläubigkeit und das Entsetzen des Publikums aus, als sie Carola Lentz vorhielt, wie unmöglich es sei, dass sie als weiße Frau gerade einer schwarzen Frau vorschreibt, wie diese sich gegenüber dem Rassismus zu verhalten und wie sie dazu fühlen solle – eine Haltung, die auch jetzt noch beweist, dass Rassismus, vor allem in Form des Alltagsrassismus, ein konkretes Person der Gesellschaft ist, der sich auch so äußert, wie wir es bei dieser Veranstaltung hautnah miterleben mussten: »Dieses Buch ist nicht rassistisch – damals hat man halt so geredet«. Dass »man« schon damals nicht die Betroffenen waren, dass, selbst wenn, die Verwendung eines diffamierenden Wortes durch die Betroffenen etwas ganz anderes ist als wenn es die Unterdrückergruppe verwendet, das sind Aspekte, die gerne übersehen werden, wenn über rassistische Werke gesprochen wird. Und ganz unabhängig von der Absicht des Autors sind Inhalte, die so offen rassistische Inhalte haben, als Pflichtlektüre in der Schule absolut ungeeignet. Um Lektüreanalyse zu üben, können andere Werke gewählt werden; um Rassismus zu thematisieren, gibt es eine Vielzahl geeignetere Ausgangspunkte. Und ein weiterer Punkt, den Susanne Burkhardt zu Recht anspricht: Ist eine Person wie Carola Lentz dafür geeignet, als Präsidentin des Goethe-Instituts zu entscheiden, welche Werke im Ausland als deutscher Kanon präsentiert werden? Auch aus dem Publikum kamen viele weitere Meldungen, die Diskussion ging lange hin und her, ohne dass sich die Fronten erweicht hätten. Nahezu eine Stunde nach dem geplanten Ende wurde das Gespräch beendet, zum Weiterdiskutieren ging man in das Blaue Haus. Dazu muss gesagt werden, dass Carola Lentz sich wohl genug gefühlt hat, um dieser Runde noch beizuwohnen. Jasmin Blunt war abwesend. Und dass ich danach persönlich von einer Lehrerin im Ruhestand angesprochen wurde, die mir vorwarf, ich sei nicht offen genug, wenn ich so ein Werk wie Tauben im Gras nicht im Unterricht behandeln wollen würde, spricht leider auch Bände.

Die gesamte Veranstaltung war überaus aufwühlend. Ich war nicht die Einzige, die sich gewünscht hätte, dass den schwierigen Themen mehr Raum und Zeit gelassen worden wäre. Jeder der drei Themenblöcke hätte jeweils einen ganzen Tag füllen können und man konnte keinem von ihnen in diesem einen Abend gerecht werden. So erschreckend es war, dass doch noch einige Leute anti-inklusive und (Alltags-)rassistische Meinungen vertraten, so war es doch beruhigend, dass viele andere dagegen protestiert haben. Ich werde an diesem Abend und diesen Thematiken (bzw. präsentierten Meinungen) auf jeden Fall noch lange zu knabbern haben – wie viele andere hoffentlich auch, denn anscheinend braucht es diese intensive Beschäftigung auch heute noch dringend.

»Giftiges Erbe - Brauchen wir einen Kanon?«: Diskussion mit Olivia Ebert, Jasmin Blunt, Carola Lentz, Jürgen Kaube, Andrea Geier & Lukas Bärfuss © Judith Buss

20.11.2023
»Ruinen und Bilder von gestern: Was erzählen sie uns heute?« - Lillemor Pauli

Viele von uns werden das Gefühl der Ehrfurcht kennen, die das Gemüt erfüllt, wenn man, meistens im Urlaub, plötzlich vor einem alten Gebäude steht, ein Gefühl, das uns in eine alte Zeit zurückwandern lässt. Ich zumindest frage mich immer, wie wohl die Welt war, als es erbaut wurde, wie die Menschen waren, die darin gewohnt haben – hatten sie dieselben Hoffnungen und Ängste, Gefühle und Gedanken wie ich? Was würden sie mir wohl sagen, wären sie bei mir? Was würden sie über unsere Welt denken? Dass Andere diese Gedanken teilen, zeigt sich beispielsweise an Luigi Spinas Buch »Pompeji. Eine Reise durch die berühmteste Stätte der Antike« (Sandmann Verlag). Über Jahre hinweg hat er regelmäßig die Stadt, die ein Fenster in die Vergangenheit zu sein scheint, besucht und mit einer Hasselblad-Kamera zahlreiche Fotos der Wohnräume geschossen. Vielleicht liegt es an der besonderen Kamera, dass die Bilder so seltsam lebendig wirken; aber auch der Moderator der am 19.11. stattgefundenen Veranstaltung »Ruinen und Bilder von gestern: Was erzählen sie uns heute?«, Stefan Ulrich, merkte an, dass es mehr wirkte, als wären die Bewohner_innen von Pompeji seit 20 Jahren tot als seit 2000. Und auch das Publikum zeigte sich schon bei dem Film, der am Anfang der Veranstaltung gezeigt wurde, gebannt von der Stadt. Die Matinee beschäftigte sich mit der Frage, was wir in unserer Gesellschaft heute von vergangenen Zeiten lernen können und nicht nur Spinas Bilder von Pompeji, sondern auch einige der Kunstwerke, die die SZ-Kunstexpertin Kia Vahland in ihrem Buch »Farbe bekennen. Alte Bilder, neue Zeiten« (Suhrkamp) präsentiert und diskutiert, wurden im Hinblick auf ihre aktuelle Wirkung besprochen. Zu den Themen »Zerstörung« »Alltagsleben«“ und »Feiern des Lebens« wurde je ein Pompeji-Foto sowie Kunstwerk thematisiert. Ich fand faszinierend, wie sehr sich diese Themen durch die Jahrtausende ziehen und alle Menschen verbinden. Spina bemerkt, dass das Gefühl der drohenden Zerstörung auch heute noch in Teilen Italiens immanent ist und vielleicht ist das der Grund, wieso dort das Leben, wie die Farben in den Ruinen Pompejis, heller zu strahlen scheint. Wie Farben, auf die Picasso in dem Gemälde »Guernica“ ganz verzichtet, als er ein Bild der Kriegszerstörung darstellt, die auch heute wieder ganz präsent ist. Zentraler Bestandteil ist eine Person, die von außen hineinblickt in die Zerstörung, die Szenerie erleuchtet. Man darf die Augen nicht verschließen, muss sich informieren – diese angesprochenen Punkte sind ganz richtig, aber ich fragte mich auch: Wann wird das genaue Hinsehen zum Gaffen? Wo ist der schmale Grad zwischen einem besorgten Blick und heimlicher Sensationsgier? Ist das neugierige Hereinschauen ohne zu Handeln nicht vielleicht auch eine Kritik Picassos?

Interessanterweise ist das »Hineinschauen« aber auch ein zentraler Punkt des Alltagslebens. Während wir heute zumeist mit zehn bis hundert anderen Parteien in unseren Wohnhäusern sitzen, hinter mehreren Türen – ganz zu schweigen von Gated Communities, möchte ich hinzufügen – war die Gesellschaft früher mehr eine der Teilhabe, der offenen Türen. Nicht ohne Raum des Rückzugs, aber auch nicht abgeschottet. Und ich merke selber, dass ich ein Kind meiner Generation bin: Ich möchte meine Post holen können, ohne in anstrengenden Smalltalk verwickelt zu werden. Trotzdem hängt jetzt der fade Nachgeschmack eines »so könnte es auch sein, so könnte es normal sein« nach, nachdem ich Spinas und Vahlands Ausführungen zu der »Teilhabekultur«, wie ich Laie es jetzt dreist nennen würde, gehört habe. Man merkt dieses Sehnen aber noch heute, in Social Media; es ist nur problematisch, dass echte Teilhabe am Alltag zu einem »Ich öffne den einen Fensterladen, damit man in mein schönstes Zimmer schauen kann« umfunktioniert wird. Doch auch die Gestaltung unserer autozentrierten Städte könnte von den Ruinen und Bildern profitieren. Vahlands Aufruf, wir bräuchten Grün in der Stadt, Schlamm, Insekten, stimme ich als ursprüngliches Dorfkind vollen Herzens zu. Den Befürfnissen von Mensch und Natur müsste eine Stadt gleichermaßen gerecht werden; ich habe meine Zweifel, ob eine typische deutsche Stadt überhaupt einem der beiden gerecht wird.
Der letzte Punkt, das Feiern des Lebens, ist mit den anderen beiden eng verwoben. Als Teil des Alltags, wie in Pompeji heute noch sichtbar, ist eine Feier umso kostbarer, wenn knapp hinter den Grenzen des Lichtkegel der Freudigkeit eine drohende Katastrophe zu warten scheint – eine Tatsache, die wir wohl alle in Zeiten der Pandemie gespürt haben. Was auch aus dieser Zeit mitgenommen wurde, ist das Bewusstsein, dass auch die Kunst ohne die Gesellschaft an Bedeutung verliert. Aus Gemeinsamkeit entsteht Macht, in Chaos gibt es Kommunikation, wir können Individualist_innen sein, ohne Einzelkämpfer_innen sein zu müssen, das alles gibt uns Kia Vahland noch mit der Nachtwache von Rembrandt auf den Weg.
All die in der Matinee besprochenen Punkte sind es, wodurch wir verbunden sind mit den Geistern, die (wie Maja Haderlap es später am Tag in ihrer Lesung sagen sollte) die Lücken füllen, die zwischen den Lebenden bleiben. Und ich will dieses Erbe annehmen: Das Carpe Diem, die Teilnahme, den gemeinsamen Genuss. Deswegen sitze ich gerade mit offener Balkontüre in meiner Wohnküche und frage mich, ob mein fremder Nachbar, den ich irgendwo arbeiten höre, wohl spürt, dass wir gemeinsam arbeiten. Ich nehme dieses Erbe freudig an. Und Sie?



20.11.2023
»Bares für Rares – Dinge und Erbstücke« - Rebecca Thoss

Es ist Sonntagnachmittag und der Himmel blauweiß. Wir sind im Literaturhaus und die Sonne scheint durch die deckenhohe Glasfront auf die Bühne, auf der Lukas Bärfuss mit dem Historiker Valentin Groebner (Uni Luzern) über Dinge im Allgemeinen und Erbstücke im Besonderen sprechen möchte. Der Saal ist mit gespannten Zuhörern gut gefüllt. Es fällt auf, dass sich deutlich mehr Menschen für dieses Podium interessieren, die sich selbst mit ihrem Nachlass und dem Vererben auseinandersetzen müssen – junge potenzielle Erben erblickt man kaum. Das Publikum wird von Bärfuss mit seinem bekannten »Grüezi München« begrüßt, das seinen Charme und seine Wirkung auf dieselben nicht verliert. Der aus Wien stammende Groebner komplettiert die dialektale Varianz und so begleiten uns wohldosierter Schweizer Akzent und Wiener Schmäh durch diesen Nachmittag. Es is a Freid.

Die beiden Diskutanten streifen in ihrem Gespräch verschiedene ideengeschichtliche Zusammenhänge, die allesamt dem Verhältnis von einem Ding zu einem Erb- und Erinnerungsstück nachgehen. Zentral sind immer die Mechanismen, die greifen, sobald sich ein Ding zu einem Erinnerungsstück transformiert, das in einem nächsten Schritt materiell und immateriell vererbt werden kann. Dabei fragen sie auch nach dem Schönen, das den Dingen zu eigen sein kann – schon wieder funktioniert dies scheinbar nicht ohne den Rückbezug auf Immanuel Kant. Für mich bleiben diese kurzen und eklektischen Streifzüge durch die Philosophiegeschichte unbefriedigend. Weder setzt man sich mit den philosophischen Modellen tiefgreifend auseinander, noch werden sie, und das erachte ich als das drängendere Problem, zielführend zu einem Ergebnis gebracht. Die Aussagen zu Kants »Kritik der Urteilskraft« stehen neben denen zu Platons »Ideenlehre« disparat im Raum, ohne eine produktive Umsetzung zu erfahren.

Nach einem einstündigen Gespräch ruft Bärfuss nacheinander drei Personen auf die Bühne, die dem der Veranstaltung vorangegangen Aufruf gefolgt sind und Bilder ihrer eigenen Erbstücke eingeschickt haben. Die Geschichten hinter den Erbstücken erzählen die Erben mit Witz und in liebevoller Erinnerung an ihre Verwandten, die ihnen diese Stücke vermacht haben. Manche Erben entwickeln in der Auseinandersetzung mit ihren Erbstücken eigene Historiker-Qualitäten. Gerhard Jäger erzählt uns, welche Nachforschungen er angestellt hat, um den »Paycheck« seines Vaters entschlüsseln zu können, den dieser nach dem Ende seiner US-amerikanischen Kriegsgefangenschaft erhalten hat. Sein Vater löste diesen »Paycheck«, der immerhin einem halben Jahresgehalt nach 1945 entsprach, Zeit seines Lebens nicht ein, da der immaterielle Wert den des materiellen für den Vater weit überstieg. Während dieser Gespräche kommen Bärfuss’ Qualitäten als Moderator zum Tragen. So zeigt Kathrein Blättler uns ein »Säckchen«, mit welchem ihre Großmutter zu Lebzeiten die geschälten und geraspelten Kartoffeln entwässert hat, um daraus den perfekten Kartoffelknödel zu formen – für Bärfuss ein neuer Buchtitel: »Omas Säckchen«. Der Historiker Groebner hält sich bei den Präsentationen der Erbstücke im Hintergrund. Er zeigt jedoch im später wiedereinsetzenden Gespräch, dass seine Beobachtungen, die er in seinem neuen Buch »Aufheben, Wegwerfen. Über den Umgang mit schönen Dingen« (Konstanz University Press 2023) anstellt, direkt auf die vorgestellten Einzelbeispiele angewandt werden können. So sei der »Paycheck« ein gutes Beispiel dafür, wie das immaterielle Erbe aus dem materiellen Erbe entstünde und ohne den Sohn nicht mehr als Erinnerungsstück lesbar sei.
Ich selbst war von dem Nachmittag überrascht. Nach der Lektüre von Lukas Bärfuss’ »Vaters Kiste« (Rowohlt 2022) ging ich von einer deutlich negativeren Gesprächssituation aus – der Langessay von Bärfuss ruft keinen Zukunftsoptimismus hervor. Während Groebners Buch »Aufheben, Wegwerfen« durchaus Erbstücke historisch problematisiert, ist davon auf der Bühne nichts zu merken. Es könnte der Eindruck entstehen, dass die weitreichenden Konsequenzen im Hinblick auf das Hinterlassen ausgeklammert wurden. Dieses Fazit würde der Veranstaltung jedoch nicht gerecht werden. Viel eher ist bei diesem Podiumsgespräch ein Raum eröffnet worden, um dem Verhältnis zwischen einem Gegenstand und einem Erbstück historisch nachzugehen und die individuelle Erberfahrung auf der Bühne sichtbar zu machen. Sich mit dem Erbe und den eigenen Erinnerungsstücken auseinanderzusetzen, muss nicht zwangsläufig bedrückend sein. Das zeigten uns Valentin Groebner und Lukas Bärfuss an diesem Nachmittag. Es wor a Freid.



20.11.2023
»Dieses Erbe nehme ich an, dieses Erbe schlage ich aus« - Lillemor Pauli

Zuerst ein Geständnis: Ich bin selber Generation Z. Ich wurde auch selber daran erinnert, dass ich doch ein Essay für den Essaywettbewerb zum Thema »Dieses Erbe nehme ich an, dieses Erbe schlage ich aus« schreiben könnte. Aber dies war eines der seltenen Male, bei denen ich froh darüber bin, dass mein Gehirn die Eigenschaft eines Siebs, Sachen nicht gut aufbewahren zu können, erstaunlich gut simuliert: Ich hatte den Hinweis zwei Minuten später vergessen und war deswegen in der Lage, die Lesung vierer ausgewählter Essays als Außenstehende kritisch begleiten zu können. Nicht nur haben die Schauspieler_innen die Vorträge punktgenau gestaltet, die vier Texte behandelten auch alle unterschiedlichen Aspekte zum Erbe und beleuchteten Nischen des Themas, die man leicht übersehen könnte. Parallelen wurden zwischen dem Schreiben einer Geschichte und dem Zurückblicken auf die Familiengeschichte hergestellt, die beide voller Lücken sind, die es auszufüllen gilt, »weil nur das Erzählen gegen Leerzeichen hilft« (Elfie Weiß). Innerhalb eines aufgewühlten Monologs fühlte man sich durch das oft verwendete »Sie« seltsam direkt angesprochen, während der Sprecher über das Leben mit – ohne – durch? das Erbe monologisierte, den Tod als Bedingung für das Erbe und somit das Leben unterstrich und eine Umverteilung forderte, da man letztendlich doch über das Erbe reden müsse, da man das Erbe nicht nur aus-, sondern sich aus dem Kopf schlagen soll (Christoph Schuch). Persönlicher wurde es, als das intime Erbe zur Sprache kam, welches eine schizophrene Mutter ihrer Tochter hinterlässt, deren kleine Schultern durch die zu schwere Verantwortung gezwungenermaßen stark werden müssen; aber stark sind sie nun, stark und empathisch und kreativ, deswegen wird auch so ein schmerzvolles Erbe nicht ausgeschlagen – obwohl die Dualität von Liebe und Hass qualvoll ist (Derya Uzun). Das geistige Erbe von Eltern wurde noch einmal thematisiert, ein generationenübergreifendes Erbe, das der Mutter aufgrund fehlender Liebe eine Einsamkeit vermachte, dem Vater aufgrund selbstverständlicher Liebe eine Selbstgenügsamkeit und der Tochter als geistiges Erbe der Eltern beides, zusätzlich zu einer ganzen Baggage an anderen ‚Erbstücken‘, die in, so scheint es, mühsamer Selbstreflektion zusammengeklaubt und aufgereiht wurden, um die Eltern in sich zu erkennen, um sich zu erkennen (Meike Weißmann).

Zwischen den Lesungen der Texte bereitete sich Stille aus, man merkte, dass der Input verdaut werden muss. Ich wünschte, ich hätte zumindest am Veranstaltungsende die Essays schriftlich nochmal mitbekommen, weil ich auch gerade beim Schreiben merke, dass sich die Zahnräder dank dem Anstoß der jungen Autor_innen immer noch drehen. Das Interview, das der Moderator Lukas Bärfuß danach mit den anwesenden drei der vier Schreibenden führte, holte diese dann auch endlich persönlich auf die Bühne. Das Erbe sei ungerecht, wurde gesagt, und es bräuche eine Menge Arbeit, um daraus trotzdem ein glückliches Leben zu schaffen. Was ein glückliches Leben sei, wie sie es sich wünschen würden, konnten die drei kaum beantworten. Und doch ist das Streben nach einer Utopie nötig, um das Problem, was Lukas Bärfuß als »reiche Gegenwart, arme Zukunft« bezeichnet, anzugehen. Groß daherzureden ist nicht schwer, aber die Augen müssen wahrhaft geöffnet werden, der Aktivismus muss lebendig sein – ohne jedoch zu vergessen, dass die Lider zum Energie tanken auch mal geschlossen bleiben können: Wie sich der Körper im Schlaf auf sein Innerstes konzentriert, muss auch der Geist schmerzvolle Dinge vorübergehend ausblenden können, um Ziele zu erreichen, den Moment zu genießen und danach wieder gestärkt zu der Mission zurückkehren zu können, das Erbe, das uns aufgeladen wird, zu verarbeiten und ein bisschen besser weiterzutragen.



21.11.2023
»(K)Ein freudiges Wiedersehen« - Dennis Reinhart

»Gestern vor einem Jahr im NS-Dokuzentrum« habe man sich schon einmal getroffen und diskutiert, verkündet Forums-Kurator Lukas Bärfuss zu Beginn der Veranstaltung »Das Erbe des Krieges«. Trotz des damals umfassenden Gesprächs, so zumindest Bärfuss´ Auffassung, habe es noch genügend Gesprächsbedarf gegeben und, so viel sei schon vorab verraten, auch nach dem Ende der kurz gehaltenen Veranstaltung ist noch vieles offen. Doch woran liegt das?
Da wären zum einen die Begrüßungsworte eines LMU-Vertreters, dessen Name mir nicht bekannt ist, und eigentlich nur »zwei Sätze« sagen wollte, aus denen aber sehr schnell mal 10 Minuten wurden. Wirklich viel Substanzielles gibt es nicht, außer die üblichen Formalia, dass man etwa bemüht darum sei, herauszufinden, »welchen Anteil Deutschland historisch an der Katastrophe [dem Ukraine-Krieg]« habe oder, dass man schockiert über den russischen Angriffskrieg war. Da die Veranstaltung, zumindest scheint es so, von Anfang an auf 60 Minuten angesetzt war, ist das natürlich umso ärgerlicher, da so die Diskussion noch einmal mehr zeitlich gekürzt wurde.

Bärfuss startet mit einer Bestandsaufnahme: Was ist in diesem einem Jahr im Ukrainekrieg passiert? Nun, mittlerweile näheren wir uns einem Stellungskrieg an, in dem um Zentimeter gekämpft wird; große Gebietsgewinne, wie sie im ersten Kriegsjahr teils noch möglich waren, finden sich fast nicht mehr. Generell, und das betonte auch meine Blog-Kollegin Rebecca, schwang dem gesamten Gespräch somit eine merklich politische Note mit, was bei dem Thema jedoch nahezu unvermeidlich erscheint. Der Gast, den Bärfuss zum Gespräch eingeladen hatte, die letztjährige Kuratorin Tanja Maljartschuk, versuchte sich dabei zunächst an einer Verbindung des Politischen mit dem Poetischen beziehungsweise Literarischen. So sprach sie von einer von ihr organsierten Veranstaltung beim letzten Forum mit zwei ukrainischen Schriftstellern, die seit Februar 2022 ebenfalls als Soldaten im Krieg kämpften. Das ist an und für sich interessant, doch war mehr Mono- als Dialog und mehr Schwelgen in Erinnerung als den Blick nach vorne zu richten. Was dabei aber auffällt: Maljartschuks Wortgewandtheit, die einmal mehr deutlich macht, weshalb sie 2018 Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Preises war und dort dieses Jahr eine äußerst aufrüttelnde Rede hielt. So spricht sie davon, dass der »Krieg gegen die schönen Menschen« sei und Bärfuss schiebt hinterher, dass der Krieg mehr als nur geographische Räume, sondern etwa auch die Literatur in den betroffenen Ländern zerstöre.

Was ebenfalls auffällt: Wie sehr Bärfuss versucht, das Gespräch in eine politische Richtung zu lenken. Wenn Fragen rund um den NATO-Doppelbeschluss 1979 im Raum stehen, könnte man meinen, hier säßen nicht zwei Schriftsteller bei einer Veranstaltung des Literaturfests, sondern bei Anne Will oder einer der anderen Talkshows, die sich seit Jahren in Form von Podcasts exponentiell zu vermehren scheinen. Das ist schade, denn als Zuschauer fällt schnell auf, wie vorsichtig Maljartschuk an die Thematik des Ukrainekriegs herangeht. Es gehört viel Mut dazu, offen zuzugeben, dass man bei bestimmten Themen nicht über die Kompetenzen verfüge, die es braucht, um sachliche Einordnungen zu liefern. Denn »das, was man früher wusste, reicht nicht mehr aus«, wie sie im Verlauf des Gesprächs zugibt. Die Antworten, die sie dann aber gibt, sind dabei überaus aufschlussreich: Etwa, dass mehrere Generationen an Ukrainern nie ihr ganzes Leben lang in Frieden lebten, sondern irgendein Krieg oder Konflikt irgendwann immer tobte.

So sehr Maljartschuks Antworten zum Nachdenken andenken, so haftet dem Vortrag doch etwas Angestaubtes an, was maßgeblich auf die Fragen von Bärfuss zurückzuführen ist. Auch wenn sie teils den Finger in die Wunde legen, hat man diese doch so oder so ähnlich bereits vor Wochen oder gar Monaten in dem Politik- oder Meinungsteil der großen Medienhäuser gelesen. Etwa, ob durch den Überfall der Hamas auf Israel am 7.10 die Ukraine in den Köpfen der Deutschen hinten runterfallen würde, oder ab wann ihr klar gewesen sei, dass es zum russischen Angriff kommen würde. Und wirklich viel mehr außer »Die Menschen in der Ukraine sind sehr müde« vom Krieg bekommt Bärfuss nicht aus Maljartschuk heraus, die eben mit Bedacht spricht. Letzen Endes wird so einmal mehr deutlich, dass ein stärkerer Fokus auf Literatur wünschenswert gewesen wäre.

Nur: Kann Literatur stets unpolitisch sein, gerade von einer Autorin, die aus der Ukraine stammt und sich mit ihrem Land literarisch auseinandersetzt? Aber lassen wir das, das wäre wahrscheinlich einen gesamten Artikel wert. Aber auch dafür kann dieser Blog da sein: Die Lücken zu füllen, die bei den Veranstaltungen zu kurz kamen. Denn Maljartschuks Sprachkünste veranschaulichten sich, wenn auch nur kurz, eindrucksvoll in einem Gedicht, welches sie den Anwesenden präsentierte: »In der Nacht kann sich eine Blume von der Biene erholen. « Auf den ersten Blick mag dies wie eine reguläre Aussage wirken, die man im Biologie-Unterricht aufgeschnappt haben mag. Und doch steckt bei einer weiterführenden Auseinandersetzung mehr dahinter: Wer sind die Blumen und wer die Bienen? Erholen sie sich vom Krieg und können so als Ukrainer interpretiert werden? Gerade mit Bezug auf Maljartschuks vorheriger Aussage des »Krieg[s] gegen die schönen Menschen« liegt diese Assoziation nahe. Oder steckt in diesen Zeilen möglicherweise eine universale Botschaft: Die rastlose Menschheit kann nur in der Nacht zu der Ruhe finden, die sie am Tage niemals finden wird?

Wieso diese ganzen Interpretationsansätze? Um aufzuzeigen, in welche Richtung das Gespräch hätte gehen können, ohne vollkommen apolitisch die Lage in der Ukraine auszublenden, dabei aber die Literatur nicht weitestgehend außer Acht zu lassen. Aber wer weiß, vielleicht hatte Bärfuss ja von Anfang an ein erneutes Gespräch geplant, ein Gesprächstrio mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten – man darf ja noch träumen dürfen…



21.11.2023
»Hommage an das Denken« - Rebecca Thoss

Wozu brauchen wir die Philosophie (wörtlich »Liebe zur Weisheit«)? Das ist für mich eine offene Frage und sie kann zu verschiedenen gleichwertigen Antworten führen. Heute Abend erhielt ich eine dieser möglichen Antworten von der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk, die mich bewegt hat. Als Kuratorin des letztjährigen FORUMs trat sie mit Lukas Bärfuss in den Dialog. Gemeinsam sprachen sie im Zusammenhang des diesjährigen Themas »Erbe« in ihrer Veranstaltung über »Das Erbe des Kriegs«.

Aus diesem langen und reichhaltigen Gespräch möchte ich einen Aspekt herausheben, der mir für das gesamte Literaturfest und das FORUM insbesondere wichtig zu sein scheint. Zeitnah kam Lukas Bärfuss – wieder – auf den Aufklärer Immanuel Kant zu sprechen. Ich vermutete bereits einen Parellelismus zur gestrigen Veranstaltung (»Familienkiste«). Wieder sprachen keine Philosophen auf dem Podium über Kants Schriften – mit Omri Boehm als Fachwissenschaftler wurde dieser Joker bereits gezogen. Wieder streiften die Diskutanten Kants Ausführungen nur oberflächlich und gingen nicht in die Tiefe. Der Bruch mit dem vorherigen Umgang mit der Philosophie erfolgte in der dezidierten Anwendung dieser Ausführungen. Statt den Rekurs auf Kants Traktat »Zum ewigen Frieden“ (1795/96) auf sich beruhen zu lassen, verdeutlichte Maljartschuk eindrücklich, welche produktiven Möglichkeiten die individuelle Auseinandersetzung mit der (deutschen) Philosophie für sie bereithält. Intensiv beschäftigte sie sich sowohl mit Kants Friedensbegriff als auch mit den Reden anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels – insbesondere mit Karl Jaspers Rede »Wahrheit, Freiheit und Friede« aus dem Jahr 1958. Sie erklärte uns, dass nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ihr bisheriges Erkenntnispotenzial ausgeschöpft war. Ihr stellten sich neue Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Worte wie „Frieden“ mussten neu eingeordnet und vor allem gedacht werden. Auch wenn sie an diesem Abend nicht vorrangig als Literatin auftrat, zeigte ihr sensibler und stets kritischer Umgang mit Sprache, wie versiert sie in ihrer Kunst ist. »Frieden« ist nun mal nicht einfach nur ein Wort. Dahinter stehen komplexe Denktraditionen und Konzepte, die bis in die Gegenwart greifen. Sie konstatierte, dass ihr das gedankliche Werkzeug fehlte, um die Dimensionen dieses Kriegs begreifen zu können. Sie hatte das Bedürfnis verstehen zu wollen. Die Philosophie ist für Tanja Maljartschuk daher ein Vehikel, um die vielen Fragen, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine aufkamen, für sich beantworten zu können.

Im anschließenden Gespräch verdeutlichte mir Tanja Maljartschuk wie groß ihr Bedürfnis nach neuem Wissen war. Der Krieg in ihrem Heimatland zwang sie, sich mit ihrem eigenen Wissenstand auseinanderzusetzen. Sie betonte, dass das Denken keine Selbstverständlichkeit sei und geschult werden müsse. Dabei half ihr sowohl das abstrakte Denken, das in der Philosophie gelehrt wird, als auch das Nachdanken über die aktuellen politischen Umstände.
Wozu brauchen wir die Philosophie? Wir brauchen sie, um das Denken zu lernen. Wir brauchen sie nicht zur Selbstdarstellung, um uns selbst als geistreich und gebildet zu erachten. Dieses Verhältnis zur Philosophie erschien mir an diesem Abend als zugänglich und beeindruckend.

Lukas Bärfuss im Gespräch mit Tanja Maljartschuk am 20.11.23 © Catherina Hess

21.11.2023
»Maja Haderlap: ›Nachtfrauen‹« - Lillemor Pauli

»In diesem Buch geschehen schlimme Dinge und sie sind wunderbar erzählt«, kündigt der Moderator Niels Beintker am Anfang der Lesung mit Maja Haderlap an und bezieht sich damit auf ihr aktuelles Buch »Nachtfrauen« (Suhrkamp). Es thematisiert das Erbe einer Bilingualität, die inklusive der dahinterstehenden kulturellen Geschichte unvermeidlich Teil der Identität ist, ob gewollt oder nicht. In einem fiktiven Dorf in Kärnten wuchs die Protagonistin Mira deutsch-slowenisch auf. Um den slowenischen Wurzeln zu entkommen, zieht sie als junge Erwachsene nach Wien. Aufgrund ihrer gezwungene Rückkehr nach Kärnten Jahre später sieht sie sich mit dem konfrontiert, was sie verdrängt hatte. Maja Haderlap bezeichnete das Buch als Konglomerat unterschiedlichster Geschichten, die ihrer eigenen ähnelten und welche ihr zugeschickt wurden, nachdem sie den autobiographischen Roman »Engel des Vergessens« herausgebracht hatte. Die Schwierigkeiten, mit denen sich die Kärntner Slowen_innen konfrontiert sehen und die für sie Alltag sind und waren, waren für mich eine völlig fremde und neue Welt. Die ausgiebigen und fesselnden Erklärungen der Autorin zu den geschichtlichen Hintergründen während des zweiten Weltkriegs, aber auch bezüglich der sich bis ins 21. Jahrhundert erstreckenden Folgen dieser Zeit können hier leider aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden, ich würden Ihnen, liebe Leserschaft, aber ans Herz legen, dass Sie sich selber über diesen spannenden Teil der österreicherischen Geschichte informieren. Zwar war der erste Teil der Lesung weniger ein Dialog mit Niels Beintker als mehr ein Vortrag der Autorin, sie bemerkte es allerdings selber immer wieder und bremste sich auf liebenswerte Art und Weise aus. Das Feuer und die Leidenschaft, die bei ihr offensichtlich hinter dem Thema stehen, waren klar bemerkbar und auch in »Nachtfrauen« bemerken die Lesenden, dass nicht nur Wissen die Geschichte stützt, sondern auch Erfahrungen und eine tiefe Verbundenheit mit dem Stoff. Es wird deutlich, wie negativ das Slowenische damals von nicht-slowenischen Österreicher_innen aufgenommen wurde und wie sehr Kinder wie die junge Mira nicht nur unter der Ausgrenzung selber, sondern auch aufgrund der für die Nachkriegszeit typische fehlende Kommunikation darüber litten. Wenn Maja Haderlap das so ausführlich erläutert, verstehe selbst ich, die ich es am Anfang nicht nachvollziehen konnte, wieso Mira dieses Erbe ausschlagen will. Ich frage mich sogar, ob es nicht auch schön wäre, eine Parallelversion dieser Geschichte lesen zu können, in der solch ein Erbe nicht angenommen wird. Doch auch das Nicht-Erklären der Gründe, der Vergangenheit, der Geschichte, der Gefühle, eigentlich von allem, ist ein wiederkehrendes Thema. Im zweiten Teil des Buches, welcher sich um Miras Mutter Anni dreht, wird deutlich, dass diese Sprachlosigkeit, die Mira so verletzte, auch für die Mutter schwer wiegt. Als die Autorin eine Stelle aus dem zweiten Teil des Buches liest, in welcher genau dieses Thema im Fokus steht, kam in mir die Frage auf, was man wäre ohne Worte – was ist eine Persönlichkeit, die kaum ausgedrückt werden kann? Wie anders wird diese Person wahrgenommen? Wie viel schwerer wiegen Gefühle und Gedanken, wenn man sich nie ein Teil ihrer Last von der Seele reden kann? Für Anni ist all dies umso problematischer, weil ihr auch die Kommunikation mit ihrer Tochter verwehrt wird und damit die Nähe, nach der sie sich eigentlich schon lange sehnt. So werden in dem Roman historisch-gesellschaftliche Schwierigkeiten und ihre mehr oder weniger subtilen, Generationen überdauernden Folgen auf das Individuum mit einer feinfühligen Intensität thematisiert, die der Gewichtigkeit des Themas gerecht wird, ohne die Lesenden herunterzuziehen. Und da ich nicht weiß, ob Niels Beintker es während der Lesung oft genug gesagt hat (es können nicht mehr als sieben Mal gewesen sein), kommt nun auch von mir noch einmal der Hinweis: Sie sollten dieses Buch unbedingt lesen.



21.11.2023
»Ins Denken kommen – Identität und Krise« - Paul Krause

Unter dem Titel »Identität und Krise« startete an diesem Dienstagabend die von Max Czollek kuratierte Gesprächsreihe »AufBruchStimmung« der Münchener Stadtbibliothek. Begleitet wurde Czollek auf der Bühne von Alice Hasters und Mohamed Amjahid. Was Czollek bereits zu Beginn betonte – dass die drei eigentlich seit Jahren ein kontinuierliches Gespräch auf Bühnen wie der an diesem Abend führen – wurde schnell deutlich. Man konnte auf geteilte Prämissen zurückgreifen, die Sprecherwechsel zwischen Moderation und Gästen verliefen reibungslos, man war sich einig. Allein im formalen Aufbau des Abends und seinem performativen Vollzug war also nicht zu sehen, dass die Diskutant_innen auf Bruch gestimmt waren. Der Gestus des Panels war vielmehr ein Aufzeigen von real existierenden gesellschaftlichen Brüchen und eine Aufforderung der Anerkennung derselben. Dabei standen vor allem Brüche zwischen individuellen oder kollektiven narrativ konstruierten Identitäten und einer in der Diskussion argumentativ stark frequentierten Realität im Fokus.
Besonders Hasters betonte dabei (wie bereits in ihrem 2023 bei hanserblau erschienenen Buch »Identitätskrise«) das epistemisch produktive Moment der Krise schlechthin. Unter dem Begriff der Krise versteht Hasters dabei einen temporären kritischen Zustand der Dissonanz, der eine Entscheidung verlange und zur Auflösung oder Verschärfung der Situation führe. In ihr würden zudem Privilegien besonders deutlich. Referenzpunkte für das Gespräch über Krisen sind an diesem Abend immer wieder die Corona-Pandemie und die Klima-Katastrophe – gerade an letzterer zeige sich, wie das Lebensmodell einer reichen, westlichen Gesellschaft in eine Krise gerate, woraus sich folgende zwei Optionen ergeben: Lösung der Identitäts- und Klimakrise durch Veränderung des klimaschädlichen Lebensstils (auch durch Verzicht) und damit Ausbildung einer neuen, an veränderten realen Umständen orientierten Identität oder Verschärfung der Klimakrise durch starres Beharren auf einer etablierten Identität als naturbeherrschender Konsumgesellschaft, die sich unreguliertes Wachstum leisten kann.
Czollek betont dabei noch einmal, dass es gerade ein Problem sein kann, wenn die Wahrnehmung eines Krisenzustands ausbleibe. Sein Beispiel sind die Umfragewerte der AfD (aktuell bundesweit bei über 20%), bei denen noch immer so getan werde, als ob uns das nicht betreffe. An einem anderen Punkt im Gespräch weist er zudem darauf hin, dass der Vorwurf, die Thematisierung von Spaltungen gefährde den gesellschaftlichen Zusammenhalt, unsinnig sei, da die Gefahr ja von den real existierenden Spaltungen ausgehe, die ohne ihre Analyse auch unlösbar blieben. Als Walter Benjamin und Bertolt Brecht in den Jahren 1930/31 eine Zeitschrift mit dem Titel »Krise und Kritik« planen, schreibt Benjamin, dass es das Ziel der Publikation sein müsse, die »Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik«. Genau dieses Bestreben ist auch bei Czollek, Hasters und Amjahid spürbar. Sie alle betonen das Ziel, Differenzen zwischen Haltungen, Identitäten und Realitätsbeschreibungen auf der einen und konkreten Strukturen und Praktiken auf der anderen Seite zu benennen. Natürlich geschieht all das nicht interesselos, sondern folgt der Intention der emanzipatorischen Lösung der Krisen und der Reduktion von realer Gewalt. Veranschaulicht wird an diesem Abend also eine Form ‚eingreifenden Denkens‘, um eine Formulierung aus Brechts Notizbüchern zu verwenden (die dort ebenfalls im Zusammenhang mit den Aufgaben einer Zeitschrift steht). Das Mittel der drei Diskutant_innen dazu ist – sie sind alle Buchautor_innen – vor allem die Sprache. Dennoch hat diese (zumindest den expliziten Aussagen gemäß) an diesem Abend kein gutes Standing. Vor allem Amjahid kritisiert eine Relativität der Realität (»Es ist nun mal faktisch eine 6 oder eine 9«) und sagt, dass das Diskutieren über Sprache grundsätzlich lohnend sein kann, aber die Gewichtung häufig unsinnig sei – in seinen Recherchen (z.B. zu Frontex) gehe es vorrangig um Handlungen. Auch Hasters betont die Existenz einer von der Wahrnehmung unabhängigen Realität. Diese sei zwar nur subjektiv zugänglich, doch interessiere sich diese Realität grundsätzlich nicht für die Möglichkeit ihres Zugangs (auch der Covid-Leugner kann an Covid erkranken).
Die Beispiele sind so treffend gewählt, dass kaum widersprochen werden kann, doch positivistelt es doch gehörig, sodass man zumindest gern gefragt hätte, wie weit die drei in ihrem epistemologischen und ontologischen Realismus gehen würden und wie sie selbst in ihrer Arbeit mit der möglichen Beeinflussung durch historisch spezifische Episteme/Paradigmen umgehen. Und auch wenn Probleme letztlich nicht in der Sprache gelöst, sondern nur aufgezeigt werden können, so ist es doch gerade das Sprechen, dass uns überhaupt die Möglichkeit gibt, uns über eine unabhängig voneinander erfahrene und daher abzugleichende Realität zu verständigen. Hier treten wir mit unserer Weltwahrnehmung an die Öffentlichkeit und können sie kritisch im Austausch entwickeln. Dass Czollek, Hasters und Amjahid weitgehend eine Realität teilen und mit ihren gegenseitigen Beschreibungen einverstanden sind, wurde an jeder Stelle des Gesprächs deutlich. Hier hätte es (auch im Sinne des Formats) geholfen, wenn durch eine kurze Schlussdiskussion die Möglichkeit zur abweichenden Realitätsbeschreibung gegeben worden wäre. So konnte man letztlich einem engagierten und anspruchsvollen Gespräch unter Freund_innen zuhören, bei dem man zumindest stellenweise gern ebenfalls denkend eingegriffen hätte.



22.11.2023
»›aber davor eine kleine Anekdote‹ – Dinçer Güçyeter im Gespräch mit Lukas Bärfuss« - Paul Krause

Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.
Und unter denen, die Geschichten niedergeschrieben haben, sind es die Großen, deren
Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt.

So beginnt das zweite Kapitel von Walter Benjamins Erzähler-Aufsatz und mit genau diesem dort beschriebenen (an Nikolai Lesskow veranschaulichten) Erzählertypus vergleicht Lukas Bärfuss Dinçer Güçyeter. Nun könnte man diese Referenz als konventionelle Moderationsexzentrik abtun, doch erweist sich der Vergleich als erstaunlich produktiv. Denn Güçyeter beherrscht sie tatsächlich noch – die Kunst des Erzählens im Sinne des »Vermögen[s], Erfahrungen auszutauschen«, wie es Benjamin beschreibt. Erfahrungen sind es, von denen »Unser Deutschlandmärchen« (mikrotext, 2022) handelt – eigene und fremde Erfahrungen, die durch die Lektüre zu den Erfahrungen derer werden, die der Geschichte zuhören oder sie lesen (und auch Benjamin geht in seinem Text auf das Märchen ein). Doch das Erzählen Güçyeters übersteigt das schriftlich Fixierte in seinen Prosa- und Gedichttexten, denn an diesem Abend lässt sich kaum ein Unterschied im Duktus erkennen, wenn der Autor aus seinen Texten vorliest oder wenn er eine Anekdote berichtet – in beiden Fällen ist es eben kein Vorlesen und kein Berichten, sondern ein Erzählen. Auch die gedruckten Texte werden nicht abgelesen, sondern frei vorgetragen. Der Text liegt geöffnet vor Güçyeter, doch nur selten blickt er hinein. Vielmehr erzählt er aus der Erinnerung und eben aus der Erfahrung. Hierbei folgen gedruckte Prosa und Lyrik und rein mündlich Überliefertes einer gemeinsamen, gebundenen, durch die Atmung strukturierten Sprechmelodie, die von meist kreisenden Bewegungen der rechten Hand begleitet wird. Auch ist es eine Literatur, die Rat weiß. Wenn Güçyeter berichtet, dass die weiblichen Mitglieder seiner Familie im Bordell seines Onkels in Nettetal die Wäsche gewaschen und dabei Allah um Verzeihung gebeten haben, lernt man etwas über religiösen Pragmatismus, wenn er beschreibt, wie er von 6 bis 15 Uhr an der Drehmaschine stand und von 16 bis 2 Uhr Lasker-Schüler, Bachmann, Böll und Achmatowa las, lernt man etwas über Privilegien und darüber, wie ein Zugang zur Literatur erkämpft werden kann und wenn der Autor davon erzählt, dass er seine Mutter zur Buchpremiere von »Unser Deutschlandmärchen« mit nach Köln genommen hat und sie die Käufer_innen seines Buches kritisch fragte, wieso sie gerade ein Buch für 25€ gekauft hätten und er dann hinzufügt, dass sie dafür 5 Stunden arbeiten müsste, dann lernt man etwas über den Wert von Lebenszeit. Es ist jedoch auch kein bloß monologisches Erzählen. Immer wieder weist Güçyeter darauf hin, welche Geschichten er von seiner Großmutter Hanife oder seiner Mutter Fatma erhalten hat und auch »Unser Deutschlandmärchen« ist von zahlreichen Erzählern durchzogen, bspw. auch in Form eines Briefs von Yılmaz – dem Vater Dinçer Güçyeters. Wenn Güçyeter an diesem Abend explizit mit Bärfuss spricht, dann beendet er seine Sätze häufig mit einem sehr hohen »hm?«, bevor sich der nächste druckreife Satz anreiht. Hierdurch erkennt er in seinen langen freien Erzählpassagen immer wieder die Existenz seiner Zuhörer_innen an, macht die Adressierung seines Sprechens deutlich und versichert sich des Verstandenwerdens. Seiner Wirkung auf das Publikum ist er sich dabei vollkommen bewusst – so beendet er seine minutenlangen Antworten auf Bärfuss‘ Fragen häufig mit einem Zwinkern ins Publikum. Dinçer Güçyeter stellt an diesem Abend letztlich genau das zur Schau, was Benjamin, dem Erzähler am Ende seines Textes zuspricht: die Begabung, sein ganzes Leben erzählen zu können – und es ist eine Freude dabei zuzuhören.



23.11.2023
»Endlich ein Dichter!« – Rebecca Thoss

Wir saßen im Gasteig und begrüßten Dinçer Güçyeter, der mit Lukas Bärfuss über seine Lyrik und seinen ersten Roman »Unser Deutschlandmärchen« (mikrotext / 2022) sprach. »Endlich ein Dichter!« – erfreute sich Bärfuss, als er Güçyeter anmoderierte und ich konnte ihm nur zustimmen. Das FORUM war bisher nur spärlich mit literarisch Schreibenden besetzt, die auch über ihre Texte sprachen. Zwar schmälerte das nicht den inhaltlichen Gehalt der jeweiligen Veranstaltungen, wenn auch Themen abseits der Literatur besprochen wurden. Dennoch muss der Literatur in einem Literaturfest genügend Raum gegeben werden. Noch am Tag zuvor sprach ich mit Joachim Gauck über das Verhältnis zwischen engagierten Autoren und der Politik. Er war überzeugt, dass die finanzielle Förderung und Unterstützung des Literaturbetriebs ein unerlässliches politisches Anliegen sei. Denn die Literatur erreiche mit der Fiktion »Horizonte«, die in der Realität noch in weiter Ferne seien. Themenkomplexe können in der Literatur verhandelt und dadurch verständlich gemacht werden. Darauf verwies auch Lukas Bärfuss, der im Gespräch zwischen Moderator und Schriftsteller changierte. Gemeinsam mit Güçyeters authentischer Sprechweise und seinen performativen Eigenheiten ergab sich eine unterhaltsame und versierte Kombination auf der Bühne, welche das Publikum den gesamten Abend über begeisterte.

Besonders eindrücklich waren Güçyeters Antworten darauf, welche Rolle sein Heimatort Nettetal in seinen Texten spielt. So habe ihn die Sozialisierung an diesem Ort als Person geprägt jedoch wurde sein Verhältnis zu Nettetal zunehmend schwieriger, als er dem Bedürfnis nachgehen wollte, sich als Schriftsteller selbstverwirklichen zu können. Er suchte nach einer eigenen Sprache, um über die vielen Zwischentöne der Nettetaler Gesellschaft schreiben zu können – und wollte diese in Istanbul und Berlin finden. Der literarische Erfolg blieb in diesen Städten aus. Stattdessen kam das Bewusstsein dafür, dass seine eigene Sprache schon immer vorhanden war und von seiner Herkunft geprägt ist. Dinçer Güçyeter arbeitet seitdem mit seiner Sprache und nicht gegen sie – das hörte man, sobald er aus seinem Roman oder seinen Gedichtbänden las. Die Suche nach einer »bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land« beschäftigte bereits Heinrich Böll in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen im Jahr 1964. Das ist fast 50 Jahre her und die beiden Autoren mögen in biographischer Hinsicht keine Gemeinsamkeiten teilen. In der Literatur treffen sie sich allerdings, wenn beide über Probleme der Gesellschaft im Allgemeinen und über das Individuum im Besonderen literarisch schreiben.

Auf humorvolle und (sprach)sensible Weise demonstrierte dieser Dialog, wie es die Literatur vermag, gesellschaftspolitische Themen und individuelle Erfahrungen in einem fiktiven Raum zu verhandeln. Das Herausragende bei dieser Veranstaltung war, dass die Literatur nicht politisch überformt wurde. Bärfuss stellte seine Fragen so, dass Güçyeters Schreibpraxis, der Übergang von der realen Vorlage in die Fiktion oder das Verhältnis des Individuums zum Kollektiv im Mittelpunkt standen. Es wurde über Literatur, Dinçer Güçyeters Literatur gesprochen.

Selfie mit Dinçer Güçyeter & Lukas Bärfuss am 21.11.23 © Pierre Jarawan

23.11.2023
»Nach jeder Antwort gibt es auch ein Fragezeichen« – Rebecca Thoss

Das »politische Erbe« stand am Montagabend im Mittelpunkt des FORUMs und saß in Gestalt von Joachim Gauck auf der Bühne in der Großen Aula (LMU München). Das mit einer Lesung kombinierte Gespräch zwischen dem ehemaligen Bundespräsidenten, der gleich zu Beginn ausdrücklich auf den Verzicht der Titelnennung bestand, und Lukas Bärfuss startete holprig und endete mit großem Beifall – die Große Aula war restlos ausverkauft.
Nach einer kurzen Lesung aus Joachim Gaucks neuem Buch »Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht« (Siedler / 2023), welches unter der Mitarbeit von Helga Hirsch entstand, begann das Gespräch, das die Erschütterungen der heutigen Demokratie in den Mittelpunkt rückte. Die Fragen, die Lukas Bärfuss an Gauck stellte, beantwortete dieser umfassend und zumeist mit einer klar verständlichen, argumentativen Dichte. Vor allem zu Beginn sprach Gauck nahezu monologisch und erlaubte Bärfuss keine Zwischenfragen. Das mag damit zusammenhängen, dass er auch über seine Kindheitserinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg sowie das Aufwachsen in der DDR sprach und dafür ungestörte Konzentration benötigte. Diejenigen aus dem Publikum, die die »Erschütterungen« zuvor genau gelesen hatten, kannten das Gros von Gaucks Ausführungen bereits – weitere Argumentationsstränge stammten aus seinen früheren Büchern, deren Titel Gauck selbst nannte.

Daher möchte ich weniger auf die Inhalte des Gesprächs eingehen, als mir einen Moment herausgreifen, in welchem der Zusammenhang von sprachlicher Sensibilität und der Analyse von politischen Prozessen deutlich wurde. Schon nahezu am Ende der Veranstaltung angekommen, lenkte Lukas Bärfuss das Gespräch auf die moderne Form der »identity politics«, deren Ursprünge sich in den USA finden und mittlerweile auch im deutschen politischen Diskurs eine Rolle spielen. Unter dem Vorbehalt, dass Gauck aus Gründen der Sympathie nicht gerne mit Progressiven streitet, ging er darauf ein, worin er das systemische Problem der modernen Identitätspolitik ausmache. Für ihn stelle der Gruppenzentrismus, über welchen sich die heutige Identitätspolitik definierte, eine Abkehr von der aufklärerischen Idee des rechtlichen Universalismus dar – Kant schwebt über diesem FORUM. Lukas Bärfuss hakte an dieser Stelle nach und fragte, ob nicht einige emanzipatorische Bewegungen des 20. Jahrhunderts wie die US-amerikanische Bürgerrechts- und die westliche Frauenbewegung über identitätspolitische Argumentationen funktionierten und daher auf der Gruppenorientierung fußten. Dem stimmte Gauck zu und verwies zugleich mit Nachdruck auf die sprachliche Unterscheidung: Ihm ging es um Gruppenzentrismus, nicht um Gruppenorientierung. Mit letzterem habe er kein Problem – die Gruppenorientierung sei bereits vorhanden und konnte wichtige initiatorische Emanzipationsmomente auslösen –, mit ersterem schon – hier sah Gauck kein zielführendes politisches Potential, solange der Universalismus nicht anerkannt werde. An dieser Stelle des Gesprächs konnte man mitverfolgen, wie sprachliche Feinheiten mit politischen Argumenten zusammenhängen. Daher überraschte es nicht, dass Gauck für einen neuen Kommunikationsstil zwischen den politischen Akteuren und den Wählern plädierte, wie er ihn beispielsweise an Robert Habeck beobachtet.

Die Dimensionen, die ein politisches Erbe erlangen kann, zeigte Joachim Gauck an diesem Abend auf. Stets vermochte er es, frühere politische Strategien, die uns heute als nur schwer nachvollziehbar erscheinen, aus ihrer Zeit heraus zu erklären. Wie wir dieses Erbe lösungsorientiert in die Zukunft führen sollen, verriet er uns jedoch nicht. Vielleicht schreibt er darüber in seinem nächsten Buch.



23.11.2023
»Erbfolgen: Wer stopft die Mäuler von morgen?« - Lillemor Pauli

Ich hatte große Erwartungen in die Veranstaltung »Erbfolgen«. Mit Ewald Frie und Bartholomäus Grill saßen zwei Männer auf der Bühne, die selbst auf Bauernhöfen aufgewachsen waren und die das Thema der Bauernfamilien bzw. Landwirtschaft aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten.
Den Anfang machte Ewald Frie (»Ein Hof und elf Geschwister« / C.H. Beck). Er erzählte, dass einige Fähigkeiten, die sein Vater noch hatte, schon an ihn nicht mehr weitergegeben wurden und fragte sich, inwiefern seine Errungenschaften als Historiker mit denen seines Vaters als Bauer zu vergleichen wären. In seiner Lesung thematisierte er aus der Perspektive eines der jüngsten von elf Kindern einige Aspekte des Alltags auf dem Hof, vor allem in Bezug auf den gefühlten Aufschwung der Landwirtschaft in den 50er Jahren und betonte wiederholt, wie sehr sich die Gefühle seiner Schwestern im Rückblick auf die Kinder- und Jugendzeit von denen seiner Brüder unterschieden und dass immer mehr Frauen dem Leben als Bäuerin entfliehen wollten. Obwohl man heraushören konnte, dass Ewald Fries Eltern die freie Berufswahl ihrer Kinder unterstützten, fanden wohl viele Mütter die ‚Flucht‘ ihrer Töchter unangebracht und es gab die Vorwürfe, dass diese jungen Frauen die Fähigkeiten, die man als (Ehe)Frau benötigt, nicht erlernen würden. Als moderne junge Frau, aufgewachsen in einem Bildungshaushalt in Deutschland, kann ich diese Einstellung glücklicherweise aus einer distanzierten Haltung betrachten und froh sein, dass es nicht mehr üblicherweise als Enttäuschung gilt, etwas anderes sein zu wollen als nur eine gute Haus- und Ehefrau. Und obwohl Bauernhöfe üblicherweise in den Familien weitergegeben und mit dem Beruf ‚Bauer‘ vererbt wurden, hatte Ewald Fries Vater den Wunsch geäußert, seine Kinder mögen unter anderen Bedingungen arbeiten können als er: »Trocken, warm und im Sitzen«, gab der Autor die Worte seines Vaters wieder. Dass wir heutzutage eher wieder mit dem Problem zu kämpfen haben, dass die Leute zu viel sitzen, zeigt nur wieder auf, dass wie so häufig auch hier gilt, einen gesunden Mittelweg zu finden. Ein weiterer Punkt, den Herr Frie (auf die Bitte seiner Schwester hin) ansprach, war das BAFÖG, das schon damals jungen Leuten zu Selbstständigkeit und Verantwortung verholfen hat. Trotz aller Unterschiede zwischen diesen Zeiten musste ich lächeln, als mir bewusstwurde, dass es sich auch noch Jahrzehnte später genauso anfühlt, das erste eigene Geld zur Verfügung zu haben; eine nette Gemeinsamkeit als Kontrast dazu, was sich alles geändert hat.

Bevor diese Veränderungen von Bartholomäus Grill angesprochen wurden, ist mir allerdings noch etwas aufgefallen: Als über die veränderte Bedeutung von Pferden gesprochen wurde, wurden die Arzt-Töchter und Arzt-Ehefrauen als anekdotisches Beispiel dafür genannt, mit wem man heute mehr zu tun hat als mit Tieren, wenn man einen Pferdehof besitzt. Ich bin Herrn Frie schon dankbar, dass er zumindest anmerkte, auch Ärzte selbst würden reiten, damit war der eine Stereotyp schon etwas aufgelockert; dass es allerdings auch Ärztinnen gibt, ob reitend oder nicht, wurde von keinem der Männer aufgegriffen. Viele werden nun die Augen verdrehen über meine vermeintliche Überkorrektheit, aber als angehende Lehrerin weiß ich durchaus, dass solche Aussagen nachweislich die Auswirkung haben, dass junge Mädchen diese Berufsgruppe unbewusst als nicht für sie angedacht empfinden und eher nicht ergreifen würden, weswegen es mir am Herzen liegt, diese normalisierten Konventionen aufzugreifen und anzusprechen.
Doch zurück zum Thema. In Bartholomäus Grills Lesung wurde die modernisierte Landwirtschaft, wie es sich auch durch sein ganzes Buch (»Bauernsterben. Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört« / Siedler) zieht, mit Krieg, vor allem Kriegsmaschinerie verglichen. Damit ist nicht nur ein Krieg gegen die Natur, sondern auch der Menschen gegeneinander gemeint; und obwohl es keine menschlichen Fatalitäten gibt, so sterben doch zahlreiche Insekten in und über dem Boden, gemeinsam mit der Artenvielfalt der Wiesen und einem Einklang des Menschen mit der Natur, während einige hundert Meter weiter eine kleine Blühwiese zu finden ist, deren Schönheit nur die Perversität der Monokulturen und ausgelaubten Böden stärker hervorhebt. In den letzten 70 Jahren hat sich die Landwirtschafts-Landschaft rasant verändert: Technisierung und Chemie haben von einer Knappheit der Nahrungsmittelproduktion Ende der 40er Jahre zu einer Überproduktion in den 70ern geführt, von den 1.4 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben sind heute noch etwa 400.000 übrig, wer das rasante Wachstum nicht mitgehen konnte, ging unter. Immer weiter, immer mehr war die Devise. Übrig bleiben Bauern, denen die Auswirkungen ihrer Art zu arbeiten meistens egal ist, Monokulturen, Chemie in unserem Essen und Wasser – und mittendrin ich mit einem Gefühl des Verlusts und der Sehnsucht, das aufkommt, wenn Bartholomäus Frie erzählt, dass er noch mit Glühwürmchen aufgewachsen ist.

In der anschließenden Diskussion wird deutlich, dass der technische Fortschritt Segen und Fluch zugleich ist; obwohl es das Individuum erst einmal bequemer und sicherer hat, beraubt sich die Landwirtschaft auf lange Sicht ihrer eigenen Existenzgrundlage. Auch wird angesprochen, dass die Verbraucherinnen zunehmend vergessen, wo die Lebensmittel herkommen. Kaum hatte ich mich von dem düsteren Gedanken, dass es wohl immer entweder Mangel oder Überfluss geben würde, losgerissen, sprach Bartholomäus Grill schon an, dass der globale Süden mehr und grüne Lebensmittel produzieren müsse, doch es sei zu überlegen, wer davon am meisten profitieren würde. An dieser Stelle begann ein subtiles ‚Tauziehen‘ zwischen Herrn Grill, der immer wieder auf sein Spezialgebiet Afrika zusteuerte, und der Moderatorin Jeanne Rubner, die den Schwerpunkt der Diskussion wohl lieber in Europa halten wollte – wobei sich Ewald Frie bescheiden zurückhielt, um Bartholomäus Grills Ausführungen nicht zu unterbrechen. Man merkte als Zuschauerin, dass dieser sein Thema leidenschaftlich vertrat, spürte aber dennoch zunehmend einen nahezu verbitterten Pessimismus. Die Menschheit zerstöre sich in den nächsten 50 Jahren selbst, wir seien in einer Polykrise mit »x Baustellen«. Es müsse einiges getan werden, vor allem in der Politik, deren Einfluss schon in der Vergangenheit deutlich wurde, die aber nicht aktiv wird. Es müsse eine andere Art Industrie geben. Effizienter zu werden, beispielsweise beim Wasserverbrauch, führe nur in ein Effizienzparadoxon, da das Eingesparte dann zugunsten mehr Produktion doch genutzt werden würde. Die Wurzel des Problems ist der Konsument und dessen ungünstiges Konsumverhalten, doch man könne auch nicht alle Lebensmittel teurer machen. Meine Erwartung, jetzt würde angesprochen werden, dass zumindest Fleisch teurer und wieder ein Luxusgut werden müsse, wurde enttäuscht. Zu der Rolle des Individuums äußerte Ewald Frie, dass große Änderungen von vielen individuellen Entscheidungen kommen und dass man an der Präferenz des Einzelnen ansetzen müsse (hier nickte die angehende Lehrerin Frau Pauli kräftig). Herr Grill betonte die Macht der großen Konzerne, die kein Interesse an einer Änderung hätten. Auch sagte er, dass nur 50% der produzierten Lebensmittel überhaupt als Nahrungsmittel verwendet werden, der Rest wird beispielsweise als Tierfutter oder Energierohstoff genutzt. Endlich, dachte ich, endlich wird der Fleischkonsum angesprochen, in den so viele anderweitig besser verwendbare Ressourcen fließen! Aber nein, es blieb bei dieser Randerwähnung. Nicht nur in diesem Kontext, sondern für den ganzen Rest der Veranstaltung, worin ich eines der beiden größten Mankos des Events sehe. Das andere ist, dass mir die Diskussion gefehlt hat. Es wurde deutlich ersichtlich, dass die beiden Männer sehr unterschiedliche Einstellungen vertraten: Während Bartholomäus Grill die Verschlechterung der Umstände hervorhebt, sieht Ewald Frie auch das Positive, das sich zeitgleich hervorgetan hat, und bezeichnete die Situation zur Erheiterung des Publikums als »gemischte Tüte«. Das Konfrontationspotential, das ja immer auch Lernpotential ist, blieb allerdings nahezu ungenutzt. Als die Diskussion dem Publikum geöffnet wurde, war ich überrascht von den durchdachten Fragen, die gestellt wurden. Nach Ende der Veranstaltung blieb mir allerdings mehr der fade Nachgeschmack von Hoffnungslosigkeit, ohne konkrete Lösungsvorschläge präsentiert bekommen zu haben. Eine Zuschauerin hinter mir hat das gut zusammengefasst: Als Bartholomäus Grill sagte, es müsse sich etwas verändern, sagte sie leise, aber hörbar aufgebracht: »Ja, aber was?«




24.11.2023*
»How to Erben – Die Enttabuisierung des Geldes« - Dennis Reinhart

Ein Abend über ein heikles Thema kündigte sich an, denn: Erben ist noch immer eine Art von Tabuthema für viele Deutsche. Und auch ich konnte nicht gänzlich unbefangen an das Thema des Erbes herantreten, schließlich bin ich mir bewusst, dass ich großes Glück damit habe, einmal ein mittelgroßes Erbe zu erhalten. Spannend versprach die Veranstaltung »Über Geld spricht man nicht. Geld hat man« zu werden, denn »erben, das tut nun wirklich jeder« konstatierte Moderator Georg Oswald. Manche würden Oswald möglicherweise widersprechen, da erben in den Köpfen zumeist mit einem Zugewinn an Geld verbunden ist. Dabei kann es ebenfalls mit Schulden verbunden sein, die die Erben aber ausschlagen können. Und bereits hier zeigt sich: Erben ist nicht gerecht. So kommt die Journalistin Julia Friedrichs im Verlauf des Abends auf den Gini-Koeffizienten zu sprechen. Dieser gibt Auskunft über die ungleiche Verteilung des Geldes in einer Gesellschaft und zeigt in Deutschland eine sehr starke Ungerechtigkeit. Deshalb wird im Verlauf des Gesprächs zwischen Friedrichs und der Millionärserbin Marlene Engelhorn deutlich, weshalb die Forderung nach einer Grundrente für alle für manche durchaus verlockend erscheint. Gerade daran verdeutlicht sich, weshalb Friedrichs Buch »Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht« (Berlin Verlag), welches bereits vor acht Jahren erschienen ist, momentan aktueller denn je erscheint, was auch Oswald bemerkt. Dennoch fällt auf: Wirkliche viele junge Leute haben sich, wie bei vielen Veranstaltungen des Forums, nicht in das Literaturhaus verirrt. Wer könnte es ihnen auch übelnehmen, schließlich gibt Friedrichs bereits zu Beginn zu, dass sie sich selbst erst mit Anfang/Mitte 30 mit dem Thema des Erbes beschäftigt hätte. Engelhorn befasst sich zwar bereits seit ihren 20ern mit der Thematik, was vermutlich aber daran liegt, dass sie relativ früh erfuhr, wie hoch ihr Erbe sein würde.

Bevor ellenlange Ausführungen zum Erbrecht folgen, die ich den Lesern ersparen will, zunächst erstmal folgendes: Die beiden Gäste Engelhorn und Friedrichs hätten nicht besser gewählt sein können. Eine Journalistin, die bereits in ihrem Buch »Wir Erben« durch ihren ausführlichen Einbezug von aktuellen Studien auffiel, konnte auch an diesem Abend damit glänzen. Und auch Engelhorn konnte durch ihre pointierten Argumente überzeugen. Eine Journalistin, die über reiche Erben schreibt und eine Millionenerbin, die ihren Reichtum beziehungsweise die unzulängliche Besteuerung der Vermögen von Reichen kritisiert, zu verbinden, ist dabei ebenfalls keine leichte Aufgabe. Georg Oswald gelingt dieser Spagat den gesamten Abend hinweg jedoch sehr gut, was allen voran an den passend gewählten Übergängen zwischen den beiden Gästen liegt.

Um nicht sämtliche Diskussionen widerzugeben, die sich im Verlauf der 60 Minuten Podiumsdiskussion und 30 Minuten Publikumsfragen ereigneten, will ich hier eher auf einige auffallende Punkte eingehen, die mir bemerkenswert erschienen. Da wäre beispielsweise eine Aussage von Engelhorn. Sie sagte, dass Reichtum für sie vollkommen normal sei, weil sie beziehungsweise ihre Familie jederzeit über genügend Geld verfügte. Wie kommt man also aus seiner eigenen Filterblase heraus? Die traurige Nachricht: Eine Allzweckwaffe gibt es dafür nicht. Zwar legt Engelhorn nahe, dass es bereits ausreichen würde, wenn man den reichen Erben aufzeigen würde, dass es nicht normal sei, über so viel Vermögen zu verfügen. Doch: Nicht jeder will diese Blase verlassen. Ein Schulfreund von mir konnte sich seinen Master in New York vor allem durch das Vermögen seines Vaters finanzieren und reagierte erbost, als man ihn daraus hinwies, er könne sich dies nur deswegen leisten. Was damit indirekt zusammenhängt: Dieser Schulfreund wird, genau wie sein Vater, einmal ebenfalls sehr viel Macht haben, was mit seinem Vermögen zusammenhängt. Genau hierin liegt der entscheidende Knackpunkt des Abends. Denn wenn Reichtum mit Macht zusammenhängt, kann sich an der aktuellen Situation hinsichtlich des Erbes nichts verändern.

So sind wenige Lobbys in Deutschland so gut organisiert wie die der Vermögenden. Daher überrascht es auch nicht, wenn Friedrichs dem Publikum verrät, dass sie »eine Recherche im Bereich hoher Erbschaften gemacht« habe, bei der es schwieriger gewesen sei, Ansprechpartner zu finden, als bei einer Recherche über Waffenlobbyisten. Denn: Erben wollen manchmal nicht über ihr Vermögen sprechen, aus Angst, dass dies zu Unverständnis in ihrem Freundeskreis führen könnte.
Was an diesem Abend aber auch deutlich wird: Geld ist, wie auch Engelhorn treffend in ihrem Buch »Geld« (Kremayr & Scheriau) feststellt, ein Garant für Sicherheit. So kann ein vorgezogenes Erbe für Familien der Rettungsanker sein, der sie aus prekären Wohnverhältnissen befreit. Doch nicht jeder hat das Glück, in eine reiche Familie geboren worden zu sein. Dass die Kluft zwischen Arm und Reich ein Problem ist, ist altbekannt, wird aber im Panel auch immer wieder thematisiert. Darin liegt auch eines der großen Probleme des Abends: So spannend die Ausführungen der beiden Gäste sind und so wütend, wie einige Statistiken zur ungleichen Vermögensverteilung und persönliche Anekdoten machen, so wenig Neues wurde gesagt. Liest man regelmäßig Zeitung oder hat im Sozialkundeunterricht entsprechend aufgepasst, wird einem hier vieles bekannt vorkommen. Für alle jene, die sich mit dem Thema aber noch nicht oder nur in Ansätzen auseinandergesetzt haben, bot der Abend aber zweifellos einen Mehrwert und entscheidende, erste Denkanstöße. Was fehlt sind jedoch konkrete Lösungsvorschläge, die in kleinen Schritten umsetzbar sind. Engelhorns Vorschläge sind zwar lobenswert, doch steckt in ihnen teils auch eine gewisse Utopie. Wenn Teile der Bevölkerung auf Klimamaßnahmen mit Ablehnung reagieren, wie soll man ihnen dann eine höhere Besteuerung schmackhaft machen? Statt sich um Fragen wie richtige Paragrafen im Grund- und Erbrecht zu kümmern oder den Unterschied zwischen Reichen und Überreichen zu ermitteln, wäre es wünschenswert gewesen, man hätte eine Bestandsaufnahme von Friedrichs Buch gemacht, um mögliche Veränderungen innerhalb der acht Jahre nach der Veröffentlichung festzustellen. Und auch wenn Friedrichs, vollkommen zu Recht, sagt, dass sie keine Lösungen präsentieren kann, schließlich sei sie keine Politikerin oder Ökonomin, so wären erste Vorschläge, wie man gegen die Ungerechtigkeit vorgehen kann, wünschenswert gewesen. Und so schleicht sich, trotz der hohen Informationsdichte und den gut ausgesuchten Gästen, trotzdem ein klein wenig Ernüchterung ein; aber: Wie soll man auch in 60 Minuten Diskussion ein solch großes Thema ausreichend beleuchten und dann auch noch Lösung aufzeigen? Vielleicht wurde sich auch einfach zu viel vorgenommen.
Einen ersten Ansatz, um die Thematik zu enttabuisieren hat das Publikum aber bereits durch diesen Abend bekommen: Über Erbe, die damit einhergehenden Erwartungen und dessen ungleiche Verteilung zu sprechen, kann bereits ein erster Schritt sein, um das Thema mehr in die Öffentlichkeit zu holen. Wie man der breiten Öffentlichkeit höhere Erbschaftssteuern schmackhaft machen soll, steht dabei auf einem anderen Blatt.



24.11.2023
»Formfragen« - Eva-Maria Kleitsch

Auf den ersten Blick gibt es wenig, das die beiden Forums-Veranstaltungen vom Donnerstag verbindet.
»Heute Abend kommt das Thema zu sich selbst«, sagte Lukas Bärfuss einleitend zur ersten Veranstaltung des Abends. Er meinte das Forum-Thema »Erben«, das im Gespräch zwischen Julia Friedrichs und Marlene Engelhorn in seinem wahrscheinlich geläufigsten Wortsinn verhandelt wurde. Beide Frauen vertraten ähnliche Positionen, benannten die große, immer größer werdende Ungleichverteilung (Friedrichs: »10 Prozent besitzen zwei Drittel des Vermögens«; das sogenannte Abstandsmaß zwischen »oben« und »unten« habe sich seit den 90ern vom Fünfzigfachen aufs Hundertfache vergrößert) als Missstand und offerierten Vorschläge zu Lösungsansätzen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten: Staatliche Datenerhebung zur genauen Größe der größten Vermögen (und Bekanntmachen der Ergebnisse), das Forcieren eines breiten öffentlichen Diskurses über Geld, sowie intensivere Besteuerung von Erbe.
Soweit, so diskussions-förderlich und informativ. Aber da ist Engelhorns Buch »Geld« (Auf Julia Friedrichs Buch kann ich nicht zu sprechen kommen, da ich es noch nicht gelesen habe - dass ich nicht auf es eingehe, ist also kein verkapptes positives oder negatives Urteil). ... Ich komme darauf zurück.

Der zweite Teil des Abends, Julia Schochs Lesung aus »Das Liebespaar des Jahrhunderts« (dtv), unterbrochen von Frage-Antwort-Intermezzi mit Anna-Lisa Dieter, hatte demgegenüber nur sehr vage mit dem Forums-Thema zu tun, handelte vielmehr von Entstehen, Andauern und Enden der sogenannten »Liebe«. Meine Ohren teilten mir mit, dass das Publikum das gut fand: Lachen, Zwischen-Applaus, spontanes Gemurmel in meinem Rücken (»ganzgenau«, »genau«, »so isses«). Ich war da, gewissermaßen, sehr draußen.

Was die Bücher von Marlene Engelhorn und Julia Schoch (und damit auch die beiden Teile des Abends) miteinander verbindet, ist das schräge Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem; ist der den Gegenstand verfehlende Stil, der vielleicht anzeigt, dass hier auch auf einen falschen Gegenstand abgezielt wird. Das gilt es aufzufächern und zu begründen.

Die misshandelte Theorie: Engelhorns »Geld«

Marlene Engelhorns Buch (Kremayr & Scheriau) ist ein Unglück.
Es ist ein Unglück, weil es hinter der Person zurückbleibt, die ich auf der Bühne erlebt habe. Diese Person war souverän und selbstironisch; vor allem aber kannte sie sich (soweit ich das beurteilen kann) in den Dingen aus, über die sie redete: Steuerrecht und Vermögensverteilung einerseits, Innenansichten aus dem Leben einer reichen Erbin andererseits. Hätte sie über eins von beidem (oder beides) ein Buch geschrieben, und zwar etwa in der Tonlage, die sie am Donnerstag auf der Bühne hatte, ich hätte es gern gelesen. Nicht immer mit Zustimmung, aber interessiert, und am Schluss ein bisschen sachkundiger als vorher.

Allein, »Geld« macht den Fehler, auch nach der Theorie zu greifen: Im Quellenverzeichnis finden sich unter anderem die Namen Arendt, Bockelmann, Bourdieu und Jaspers. Engelhorn erklärt einleitend, sie wolle »keine große Theorie auspacken« (S. 10), und das wird zum Schluss nochmal nachgestreichelt:
»Ich kann nicht sagen, was Geld letztgültig ist. [...] Wenn wir einander unsere Geldgeschichten erzählen, kommen wir dem näher, was Geld wirklich ist und mit uns macht. Näher als jede große Theorie.« (S. 158/159)
Das schwimmt wahrscheinlich noch so mit im Fahrwasser der Großtheorienphobie der Postmoderne - und ich möchte dem sehr ausdrücklich entgegenhalten, dass die Größe einer Theorie nicht Ausdruck des übergroßen Ego desjenigen ist, der sie formuliert, sondern sich zumindest idealiter aus der Größe des Gegenstandes ergibt, den sie zu fassen sucht: Man kann eine Totalität nämlich nicht gut fassen, wenn man nur ihre einzelnen Ausprägungsformen kontextlos aufsummiert. Die Verwechslung einer kritisch auf reale Totalitäten abzielenden Theorie mit »Totalitarismus« ist zu gängig, um das unausgesprochen zu lassen. Aber wenn nun Engelhorn einmal dieser Ansicht ist und sich etwas vom Kleinen und Konkreten verspricht, warum bleibt sie dann nicht wenigstens dabei? Offenbar hat sie sich auf dem umgrenzten, aber sicher nicht leicht zugänglichen Feld der juristischen Lage usw. kundig gemacht; und eigene Erlebnisse stehen ihr sowieso zur Verfügung – warum also nicht einfach dieses Material unter die Leute bringen? Solches Material wäre auch für Ansätze verwendbar, die darüber hinausgehen wollen.
Aber Engelhorn hantiert nicht nur bedenklich bedenkenlos mit (großtheoretisch über-gesättigten, voraussetzungsreichen) Begriffen wie »Demokratie«, »Menschenwürde«, »Kapitalismus« usw., sie montiert dazu die Brocken der Theorien Anderer auf eine Art und Weise in ihren Text, die ich anders als theoriefeindlich kaum nennen kann: Sie degradiert Theoriefragmente zu Glaubenssatzlieferanten; sie löst Aussagen Anderer aus ihren Kontexten, als wären Aussagen, die im Rahmen einer Theorie gemacht werden, modular und ergo umstandslos anschließbar an Aussagen aus anderen Theoriekontexten. Die Bedeutung eines Begriffs ergibt sich aber im Regelfall aus seinem Platz innerhalb einer Theorie. Begriffe und Kategorien sind keine Legosteine, die man beliebig ineinanderstecken kann. Engelhorn gleicht keine Theorieansätze miteinander ab, sie summiert; und wenn sie denn einmal Kritik an einem Ansatz äußert, dann sieht das so aus:
»In »Das Geld« knüpft Eske Bockelmann Geld als Meta-Ding an Wert. Er kritisiert, dass Marx es an die Arbeit bindet [Engelhorn gibt beidemale die Quellen an; ich lasse das hier weg].. Mir greift beides zu kurz. [...] Mein Verständnis von Geld an und für sich wird erst zu einem Ganzen, wenn es auch an Beziehungen geknüpft wird. Das gilt für Arbeit und Wert - beide entstehen in einem Beziehungsgefüge. Für mich ist dieses Gefüge die Gesellschaft [...].« (S. 48)
Hier paart sich konfus eine für den Text typische falsche Bescheidenheit mit einem ebenfalls texttypischen Welterklärbärgestus, den keine „Großtheorie“ ärger hinbekäme. Das unvermittelte Nebeneinander von »an und für sich« und »für mich« zeigt an, dass Sprache und Kategorien ihrem Gegenstand nicht gewachsen sind.
Die falsche Bescheidenheit des Textes kollidiert mit der (weitgehenden) Affirmation, mit der anderer Leute Theorie-Fetzen nacherzählt werden. Solche Affirmation suggeriert, dass die, die da zustimmt, gelesen, begriffen, abgewogen und verstanden hat. Davon ist in »Geld« aber nichts zu merken; vieles liest sich wie auswendig gelernt.
150 Seiten Text liegen vor - und den Großteil davon füllen dröge Bekenntnisse und Behauptungssätze, voller Nonsequiturs:
X ist das. Y ist das. Z ist so. A sagt, dass Z meist soundso ist. Ich finde, wir sollten ...
Das ist der Stil, nahezu durchgehend.

Dieser Stil ist nicht nur quälend, weil er sich etwa so angenehm liest, wie ein mehliger Apfel sich isst. Er ist außerdem, und das ist das Schlimmere, autoritär und ideologisch.
Autoritär: Weil ich, wenn ich ihn lese, nicht zum Weiterdenken, nicht zur Detailkritik, auch nicht zur validen Zustimmung befähigt werde. Theorien, Appelle, Fakten und (ziemlich spärliche) Anekdoten labbern ununterscheidbar wie nasse Papierseiten ineinander; Begründungen kommen kaum vor, können ergo nicht nachvollzogen werden. Sofern man nicht, wie ich das hier ansatzweise versuche, Methodenkritik am Ganzen übt, kann man eigentlich nur »Glaubichjanicht!!!« zu den Inhalten des Buchs sagen, oder aber seine Glaubenssätze mitbeten und sich daran erbauen. Nicht, weil das, was gesagt werden soll, alles eine Frage des Glaubens wäre, sondern weil die Form der Darstellung, die Engelhorn gewählt hat, es dazu macht.
Ideologisch: Weil das Vermögen von Theorie, den Status Quo zu transzendieren, hier an einen Praxisbezug verraten wird, welcher aber zugleich durch diese pseudotheoretische Einkleidung unkonkreter und diffuser wird, als er’s sein müsste. Engelhorns Methode suggeriert nicht nur fälschlicherweise den Legosteincharakter von Theoremen, sondern auch eine unmittelbare Versöhnbarkeit von Erkenntnis und Praxis: Das ist Ideologie.

Wahrscheinlich wäre das Buch so besser nicht geschrieben worden. Dass es in dieser Gestalt auf den Markt geworfen wurde, verdankt sich mutmaßlich dem, was Engelhorn selbst so ausdrückte: »Vermögende Menschen wie ich haben ein ungeheures Medienprivileg.« Das stimmt. Für den Sachverhalt kann sie nichts. Dass sie ihn offen ausspricht, ist sympathisch. Aber dieses Privileg könnte man anders nutzen, sinnvoller.

Der Abend mit Engelhorn und Friedrichs hat sich gelohnt. Das Buch lohnt sich nicht. Das Lesenswerteste daran dürfte das Literaturverzeichnis sein.

Gefühlsmystizismen im geleerten Raum: »Das Liebespaar des Jahrhunderts«

Eine solche Kluft zwischen Veranstaltung und Buch gibt es im Fall von Julia Schoch nicht.

Ich hatte den Roman im Vorfeld gelesen; dazu alle mir zugänglichen Rezensionen. Ich weiß daher, dass Das Liebespaar des Jahrhunderts allgemein für einen guten Roman gehalten wird; bei Perlentaucher findet sich nicht nur Lobendes von Elke Heidenreich, sondern auch von Kritikerinnen, deren Urteilskriterien bzw. -begründungen ich bisweilen, an anderer Stelle, teilen oder zumindest nachvollziehen kann: Kegel, Porombka, Delius. Diese Einhelligkeit hat etwas Irritierendes.

Im Gespräch mit Anna-Lisa Dieter bestätigt Schoch viele Annahmen, die ich im Roman auch schon unerfreut wahrgenommen habe, aber da noch im hypothetischen Modus: Immerhin muss das Vorsichhingedenke einer Figur auch im Falle von Autofiktion nicht den aktuellen Bewusstseinsstand der Autorin wiedergeben. Anscheinend aber leider hier halt doch:

»Jede Liebe muss am Anfang einen Gründungsmythos haben, sonst wird das nichts.«

»Man braucht ein Ideal, eine Utopie, die am Anfang steht; am Anfang muss es eine große Erhitzung geben, damit man danach abkühlen kann.«

»Die Zeit ist der mächtige Gegner aller Liebenden.«

Das sind die Weisheiten, die von Julia Schoch am Anfang des Abends über »die Liebe« verhängt werden. Ich kann mit diesen Sätzen nichts anfangen, ich habe keine Ahnung, warum Zeit für eine sinnvolle, von Interaktion getragene Beziehung zwischen zwei Menschen (oder zwischen mehreren, aber über den Rahmen der Paarbeziehung wird sowieso kaum hinausgedacht), etwas anderes sein soll als das Medium ihrer Entfaltung und Vertiefung. Ich habe keinen Schimmer, warum man eine langfristige Beziehung zwischen Menschen zwangsläufig und normativ mit einer anfänglichen Rauschmittelfunktion dieser beiden Menschen füreinander verbindet– was hat das Eine mit dem Anderen zu tun, woher diese angebliche Notwendigkeit des »Mythos«, und wie groß muss das Misstrauen in die Möglichkeit der Realität von Nähe, Interaktion, Kommunikation sein, um auf sowas zu verfallen? Wenn »Liebe« das wäre, als was sie bei Schoch erscheint, sie wäre nicht das, was man gegen die Inhumanität der Geschichte halten könnte oder sollte; sie wäre die Opfer nicht wert, die man ihr, dem Roman folgend, irgendwie doch ganz gern bringt.

Nun muss ein Romanautor ja nicht zwingend besonders treffende Gedanken haben, um treffend schreiben zu können, aber im Falle von Schochs Roman setzt sich die Mangelhaftigkeit der Gedanken ziemlich umstandslos in Textmängel um. Einmal, weil der Roman voll von Sentenzen ist, »gerade das ist vielleicht das Menschlichste an uns, die Gewissensbisse und Ausflüchte, die Beteuerungen und Selbsttäuschungen« (S. 121); etc., immer wieder. Wenn man bei sowas nicht mitgehen mag und diese Gedanken für Unsinn und den getragenen Wie-ist-das-denn-mit-uns-Menschen-Duktus für essentialistischen Ramsch hält, hat man keinen Grund, solches gern zu lesen, es sein denn, es dient zur Charakterisierung einer Figur. Jedoch, und das ist der zweite große Mangel: plastische Charaktere kommen im Buch nicht vor, ebenso wenig wie die Beziehung in ihrem Warum und Wie. Und zwar deswegen nicht, weil »die Liebe« für Schoch ein derart unhinterfragter, gut gefüllter, mystifizierter Begriff und Sinn-und-Bedeutungsspender ist, dass es so etwas wie einen reflektierenden Zugriff durch die Protagonisten nicht gibt. Und auch keine Feinheiten des Bewusstseins, überhaupt: kein kenntlich werdendes Prozessuales, keine Dynamik, übrigens auch ausnehmend wenig Dialog. Das schematische Denken über den Gegenstand »Liebe« nimmt der Perspektive, aus der da erzählt wird, die Neugier auf den Gegenstand und macht das Erzählen leer, die Sprache charakterlos und abstrakt: »Einmal übergabst du dich nach dem Hereinkommen in mein Waschbecken«, S. 42: Es ist typisch für die Sprache des Romans, dass da nicht gekotzt wird, und dass da nicht wenigstens steht »du hast dich übergeben«.
Was bleibt, ist dann leider eben eine Melange aus Sentenzen, Liebespegelmessungen und Szenen. Von den Szenen wäre manche in einem anderen Roman wahrscheinlich interessant und vielsagend (etwa die Haushalts-Sequenzen auf Seite 93), hier sind sie aber bedeutungsarm, weil kontextlos: weil weder die inneren Bedingungen der Ich-Erzählerin noch die äußeren Bedingungen besonders sichtbar werden. Wo die Zwänge, unter denen eine Figur steht, blass bleiben, erscheinen all ihre Fehler als Privatblödheit. Warum bekommt diese Frau Kinder, warum verkümmert sie zur Haushaltsarbeitmacherin, warum will sie sich vom Mann trennen? All das wäre sehr, sehr interessant, wenn die Bedingungen klar würden; ohne Bedingungen ist es gar nichts.

Dieses Nichtvorhandensein von Bedingungen harmoniert ungut mit Schochs Ansicht, man lebe heute in der »Freiheit«; früher habe es große Systeme gegeben, die die Liebe verhindert hätten, große Liebesgeschichten hätten vor allem davon gehandelt, dass die Liebe nicht stattfindet. »Jetzt ist die Liebe frei«, »Wir sind absolut frei«: Das hat sie wirklich gesagt am Donnerstag, und im Roman steht auch dergleichen. Das ist ein Denken, das von Partnermarkt so wenig wissen will wie von ökonomischen Bedingungen, von den seelischen Zwängen so wenig wie von den eigenen undurchschauten Selbstverständlichkeiten und Prämissen.
Schochs Suggestion, »früher« hätten die Romanautoren über die äußeren Liebeshindernisse geschrieben (womit sie dem eigenen Schreiben einen Novitätencharakter zumisst, den es nicht hat), nun gelte es, von Langzeitbeziehungen zu erzählen, verfehlt schon die bekannteren Romane des 19. Jahrhunderts: Weder »Effi Briest« noch »Anna Karenina« sind reduzierbar auf den von außen kommenden Verhinderungsfaktor, das meint allenfalls die verkitschte Lesart dieser Texte. Erst recht geht Schochs Annahme fehl, wenn man die letzten hundert Jahre nimmt: Spätestens nach Richard Yates kann man nicht gut behaupten, man beträte Neuland, wenn man vom Dauern und Nichtdauern von Liebesbeziehungen im ungefähren Hier-und-Heute erzählt; nur dass beides bei Yates eben plastisch wird, Struktur und Gründe bekommt: Weil es dort Umstände gibt, in denen Menschen agieren, und nicht etwa eine angebliche absolute Freiheit.

Wenn da so wenig ist im Text, warum dann aber so viel Gefallen allerorten? Ich fürchte, aus zwei Gründen. Erstens, weil Schochs Erzählerin sehr gängige Liebesvorstellungen und sehr gängige »Alternativen« durchspielt und so den Lesenden diffus entfaltet, was sie vermutlich eh schon denken. Anna-Lisa Dieter fand das dargestellte Paar im Gespräch mit Schoch ungewöhnlich, klug, und zugleich nicht aktuell darin, dass es den Konturverlust »in der Liebe« über die »Emanzipation« stellt. Dem möchte ich widersprechen: Mir scheint die Setzung der Alternative »Emanzipation“ (oder, flach-aktueller: Selbstverwirklichung) vs. »Liebe« als angeblicher Widerspruch sehr gängig und verbreitet. Diese Alternative ist die logische Konsequenz eines Freiheitsverständnisses, das im Anderen nicht die Verwirklichung oder Verwirklichungsmöglichkeit, sondern die Grenze der eigenen Freiheit sieht.
Zweitens, weil ich mir sehr gut vorstellen kann, dass viele der für sich stehenden Szenen, denen der Roman nicht den Kontext liefert, den sie bräuchten, von Leserinnen automatisch mit Selbsterlebtem aufgeladen werden, weswegen diese Szenen dann reicher erscheinen, als sie sind.
Dass der Roman das ermöglicht, mag eine Qualität sein, aber es ist eine sehr, sehr begrenzte.

Der Roman ist seinem Gegenstand so wenig gewachsen, wie Engelhorns Text es ist. Er ist ein Identifikationsroman für Frauen mit irgend-ähnlichen Biographien; und das ist weniger, als er anstrebt.



24.11.2023
»Erblasten: Wohin mit dem Müll?« – Lillemor Pauli

Das Zusammenspiel der Veranstaltung »Erbfolgen: Wer stopft die Mäuler von morgen?« und »Erblasten: Wohin mit dem Müll?« hätte nicht besser geplant sein können. Direkt nach der Frage des ‚Inputs‘ der Menschen wird die des ‚Outputs‘ besprochen. Die Bücher der beiden dafür anwesenden Gäste tragen schon in den Titeln unterschiedliche Herangehensweisen an die Thematik, während Roman Köster sein Werk »Müll. Eine schmutzige Geschichte der Menschheit« (C.H.Beck) nannte, entschied sich Annette Kehnel für den Titel »Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit« (Blessing). Ist die Geschichte nun eher schmutzig oder nachhaltig? Schmutzige Nachhaltigkeit oder nachhaltiger Schmutz? Wer meinen Blogeintrag zu der Erbfolgen-Veranstaltung auch gelesen hat, weiß schon, dass mir dort die Diskussion gefehlt hat, dieser Wunsch wurde mir dann allerdings von Herrn Köster und Frau Kehnel doch noch erfüllt. Auf bestimmte, aber dennoch respektvolle und kollegiale Art vertraten die Gäste ihre Standpunkte in lockerer und meist lustiger Atmosphäre, trotz des eigentlich sehr bedrückenden Themas.
Die Moderatorin Vera Schroeder merkt zu Anfang an, dass im Rahmen des Literaturfests verständlicherweise zumeist andere Krisen thematisiert wurden, sie die Müllproblematik allerdings auch sehr wichtig findet und sich freut, dass sie einen Platz gefunden hat. Für mich ist das Erbe des Abfalls sogar eines der zentralsten Probleme, da dieser Müll nicht nur an uns als nächste Generation, sondern auch noch an zahlreiche Folgegenerationen weitergegeben wird – somit ist unser Unrat eines der langfristigsten Erben überhaupt. Herr Köster begann mit seiner Lesung, er entschied sich für eine Stelle recht hinten in seinem Buch, die vor allem das Plastik in den Meeren thematisierte. Nachdem jahrelang das größere Problem die absichtsvolle Versenkung radioaktiver und chemischer Abfallprodukte in den Meeren war, bekam das Plastik kaum Aufmerksamkeit, obwohl schon in den 30er Jahren darüber berichtet wurde. Der Vergleich dieser Verschmutzungen ließ in mir die Frage aufkommen, was wohl schlimmer ist: Wenn Menschen ihren Müll mit Absicht in Gewässer ablagern oder wenn unabsichtlich solch eine Menge Abfall dorthin gelangt? Bei ersterem wird es schwieriger sein, die vermutlich skrupellosen Täter zu überzeugen, davon abzusehen, doch bei zweiterem ist es vielleicht schon die größte Herausforderung, herauszufinden, wie man das Problem überhaupt angehen kann. Roman Köster meinte, man müsse am Konsumenten ansetzen, da Müll, der erst einmal produziert ist, nicht verschwindet, sondern seine Spuren immer hinterlässt. Gerade werden nicht Ursachen, sondern Symptome bekämpft und obwohl das Individuum auf jeden Fall seinen Teil dazu beitragen sollte (und muss!), liegt doch auch viel an der Industrie – die generell gesagt davon zu sehr profitiert, um diesen Wandel selber herbeirufen zu wollen. Doch auch wir profitieren vom Müll. Auch einfach alles zu reparieren, geht aufgrund anderer Produktionsweisen nicht mehr. Hier wanderten meine Gedanken zu meinen zahlreichen Socken, die darauf warten, gestopft zu werden; Da bei Socken niederer Qualität allerdings große Stellen abgescheuert und dann sofort zu fersengroßen Löchern werden, sind sie nicht so einfach zu stopfen wie früher und wie Herr Köstner später, lustigerweise dasselbe Beispiel nutzend, anmerkte, ist es günstiger und zeitsparend, sich einfach neue Socken zu kaufen. In der anschließenden Diskussion wurde kurz die UN-Konferenz zu Plastikmüll in Nairobi angesprochen, die aber gescheitert sei und Roman Köster stellte in Aussicht, dass es in den nächsten 50 Jahren schätzungsweise 75% mehr Müll geben würde, worauf ein schockiertes Raunen durch den Raum ging. Als Annette Kehnel zu den Aussagen ihres Mit-Gastes Stellung bezog, sagte sie, die Umstände würden in ihr Traurigkeit und Aggression hervorrufen (in meinen Notizen steht zu dieser Stelle in einwandfreier Jugendsprache »same«). Sie schlug aber hoffnungsvollere Töne an, als sie den »Mythos Alternativlosigkeit« ansprach und, am Beispiel des Rauchverbots im Jahr 2000, betonte, dass die Geschwindigkeit von Veränderung unterschätzt wird. Während Herr Köster die Meinung vertritt, man solle sich nicht darauf verlassen, dass eine Technologie entwickelt wird, die die Müllprobleme lösen kann, hegt Frau Kehnel große Hoffnungen bezüglich der Technologie und Innovation, vor allem der jungen Leute.

Hier fing eine Diskussion an, die ich genauso wie die anderen Zuschauenden sehr genoss; es hätte mich nicht gewundert, wenn wir alle wie bei einem Tennisspiel synchron die Köpfe nach links und rechts gedreht hätten, um das Match besser verfolgen zu können. Annette Kehnel fragte nach, wer denn das »wir« sei, das vom Müll profitiere, und ob der Überfluss nicht eher einengend wirkt (siehe Marie Kondo, die mit Reduktion im Alltag weltberühmt wurde). Roman Köster hält dagegen, dass die Menschen aufgrund der niedrigen Lebensmittelpreise, ermöglicht durch günstige Produktion und Plastikverpackungen, mehr Geld für Hobbys und Freizeit habe (sein mir sehr plausibel erscheinendes Beispiel war eine Playstation). Gekontert wurde wieder mit der Frage, ob denn dieses Konsumverhalten tatsächlich angeboren oder uns nicht eher von der Gesellschaft und dem Markt aufgezwungen sei, worauf erwidert wurde, dass der Mensch schon immer den Wunsch nach immer mehr gehabt habe. Ich saß nahezu auf der Stuhlkante und verfolgte das Gespräch, da dieser Konflikt von (selbsternanntem) »Schlechte Laune-Onkel« vs. Hoffnungsschimmer einer ist, den ich aus mir selbst kenne und der Ihnen, liebe Lesende, sicher auch nicht fremd ist. Worin sich die beiden allerdings einig waren, war, dass die Individualverantwortung eine große Rolle spiele, es aber schwer sei, die Individuen in Frage dazu zu bringen, diese anzunehmen (und hier ging es auch kurz um den Fleischkonsum, den ich in der vorherigen Veranstaltung vermisst hatte). Langsam wird klar, dass es nicht ausreicht, das Problem zu verstehen, um Änderungen herbeizurufen, sonst hätte sich schon lange etwas getan. Annette Kehnel stellt allerdings heraus, dass auf kommunaler und regionaler Ebene Änderungen vorangetrieben werden, die auf größerer Ebene fehlen und sie richtet einen eingehenden Appell an die älteren Generationen, wobei sie namentlich die Baby-Boomer nannte, die 50% des Gesamtkapitals, auf dem die Älteren sitzen, in die Innovationen der Jungen zu investieren, da diese es seien, die die Konsequenten tragen müssen und sich, im Gegensatz zu dem irgendwann eintretenden Alterspessimismus, noch motiviert zeigen, die Dinge anzupacken. »Wenn wir nicht in die Jungen investieren, sterben wir zwar reich«, fing sie einen Satz an, und mein Gehirn ergänzte sofort: »… aber die Welt bald darauf mit«. Frau Kehnel fügte trocken hinzu, die älteren Generationen seien pikiert, da die jüngeren ihre Ratschläge ausschlagen, aber die Jüngeren bräuchten das Geld eben mehr als das Wissen. Und als Teil der jüngeren Generation kann ich noch hinzufügen, dass der Grad zwischen gutem Ratschlag und Bevormundung leider sehr schmal ist. Obwohl wir Menschen viele Probleme verursachen würden, könnten wir auch viele lösen, betont Frau Kehnel.
Bevor ich als Teil der von ihr hochgelobten jungen Generation allerdings dem Drang nachgeben konnte, mir selber auf die Schulter zu klopfen, holte mich Roman Köster wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, als er anmerkte, dass trotzdem auch die Jugend zu viel in Fast Fashion investiere, Autofahre etc. Leider muss ich ihm auch zustimmen, selbst in meinem Umfeld, das größtenteils Studierende enthält, kann ich dieses von ihm kritisierte Verhalten selber sehen. In der sich anschließenden Lesung von Annette Kehnel erzählt sie zuerst von der ursprünglichen Herstellung von Papier aus alten Lumpen. Als ein junger Geistlicher anfing, mit anderen, vor allem aber Naturmaterialien herzumexperimentieren, ernte er Kritik, vor allem von dem Papierhersteller Keferstein. Mit den Zweifeln, ob diese Innovation jemals funktionieren könne, der Überzeugung, der Papierbedarf würde sowieso nicht steigen und einigen anderen Punkten nannte Keferstein schon damals viele Argumente, die heute in gleicher oder ähnlicher Form auch noch als Argumente gegen Innovation verwendet werden. Damit hebt Frau Kehnel hervor, dass eine bahnbrechende Erfindung schon in ihren Anfängen sehr wehrhaft sein muss und sie betont, dass die Industrie sie aufgreifen und weiterentwickeln muss. Mit Keferstein haben wir ein schon lang zurückliegendes Beispiel für »Expertenwiderstand«, den die Autorin wieder mit einer auf Seite der Expert_innen bestehenden Idee der Alternativlosigkeit verknüpft. Das Festhalten an einem Status Quo aufgrund eines übermäßig großen Selbstvertrauens und Vertrauens in die Technik mache blind für die Zukunft, endet Annette Kehnel. Darauf folgte eine Diskussion, in der der Wunsch der Menschen nach Konsum und das dem wiederstrebenden Bedürfnis nach Einfachheit genauer thematisiert wurde: Zwei Seelen wohnen, ach, in unserer Brust. Roman Köster beschließt seinen Besuch mit einem Zitat von Adam Ferges, das mir sehr passend erschien: »Die Menschen ertragen es, arm zu sein, aber nicht, arm zu werden.« Woher kommt diese Angst, nicht genug zu haben, selbst wenn man alles hat? Vielleicht ist das eine Angst, die die Wurzel einiger Schwierigkeiten unserer Zeit ist. Annette Kehnel beschließt ihren Besuch mit der Aufforderung, man solle Innovation feiern und die Illusion der Alternativlosigkeit nicht still akzeptieren. Alles in allem war »Erblasten« eine fantastische Veranstaltung, genauso, wie ich sie mir gewünscht hätte: Eine angeregte Diskussion auf Augenhöhe, die das Gewicht der schwierigen Thematiken nicht kleinredet, aber doch bei aller Ernsthaftigkeit das Gefühl hinterlässt, wir können die Probleme gemeinsam schultern.
Und als kleiner Schlussgedanke: Mir fiel bei Roman Kösters Ausführungen Wall-E ein, der kleine Roboter aus dem gleichnamigen Pixar-Film, der auf der vermüllten Erde Abfall zu kleinen Würfeln presst. Dieses Bild, gemeinsam mit der Erzählung Frau Kehnels am Ende der Veranstaltung, die Menschen hätten früher Häuser aus alten Mammutknochen gebaut, die ja damals auch als Müll hätten gelten können, ließ in mir die Vorstellung von kleinen Häusern aus Müll-Würfeln aufkommen. Ich weiß, dass das utopische Wünsche sind – Aber die Vorstellung, aus etwas Problematischem etwas Nützliches zu machen, lädt einfach zum Träumen ein.



24.11.2023
»Denken und nicht mehr denken. Der Freitag« - Eva Maria Kleitsch

Das Schlimme kam in der Mitte.

Es füllte den Raum zwischen einer nur aus Zeitgründen beendeten Diskussion und einer beachtlichen Musik-Lyrik-Performance. Es hatte, leider, die meisten Zuschauer: fand vor gefülltem Saal statt, während vorher und nachher höchstens zwei Drittel der Stühle im Saal besetzt waren.
Das Schlimme war »Serious Shit: Die Zukunft der Erben«, ein Abend mit Florence Gaub und Marlene Knobloch, wie das hieß, und völlig zurecht, denn eine Debatte war‘s nicht. Shelly Kupferberg moderierte. Drei Frauen, die pausenlos nach vorne lächelten, die in puncto fishing for sympathy offenbar brav ihre Hausaufgaben gemacht hatten, alle paar Minuten ein Scherz zur Stimmungslockerung, immer wieder ein Lachen hier und ein Lachen da aus dem Publikum. Die Lieblingsphrase, die sie alle im Munde führten, war »voll spannend«, das wurde wechselnd den Beiträgen der Anderen oder dem eigenen Gegenstand attestiert.

Worum ging’s?

Marlene Knobloch hat ein Büchlein namens »Serious Shit. Die Welt ist gefährlich - und warum wir das erst jetzt merken« (dtv) geschrieben, eine Art »Generation Golf« für Spätergeborene, nur etwas diskursoberflächen-affiner und via Ukrainekrieg mit einer geborgten Schwere versehen. Das wäre alles noch nicht so arg, hätte Kupferberg Knobloch nicht an diesem Abend für die Rolle der Unkenruferin ausersehen, eine Rolle, die auf jemanden, der am Schluss Poesiealbensprüche der Form »Wir vergessen vielleicht ein bisschen die Schönheit von unseren Werten.« von sich geben konnte, nicht ganz ideal passte.
Demgegenüber also sollte nun die »Politikwissenschaftlerin und Militärstrategin« Gaub als Hoffnungsspenderin auftreten. Eine Hoffnungsspenderin, die auf Knoblochs »Fragen« - so die Selbsteinschätzung Gaubs - »Antworten geben« konnte. Kein Wunder, dass man so notorisch heiter dreinschaute. Aus welcher Ecke Gaubs »Antworten« kamen, zeigt der O-Ton vielleicht am besten:

»Man muss sich seinen Fischschwarm suchen, dann kann man seine Zukunft managen.«

»Wir sind im 21. Jahrhundert total frei.«

»Das Alleinstellungsmerkmal an der Zukunft ist, dass sie anders ist als die Gegenwart.«

»Die Geschichte hat die Funktion, dass wir daraus für die Zukunft lernen.«

»Ihr Gehirn kann sehr detailliert sich die Zukunft vorstellen.«

»Der Mensch hat wahrscheinlich die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen, um was zu tun.«

»Studien belegen ...«

Also: Der Zwangsoptimismus der »Macher«, wabernde Neuro-Teleologie, versierte, reichlich mit Jargon gewaschene Gedankenferne, für alles eine Studie und Statistik, aber nirgendwo Kategorienreflexion. Unterm Strich: Walpurgisnacht der instrumentalisierenden Vernunft.
Es ist die gegen jeden Angriff durch grundsätzliche Reflexion immune Gepanzertheit dieses Sprechen, die den putzmunter-steviasüßen Plauderton der drei auf der Bühne so unerträglich macht: unerbittlich nett zueinander. Hier kommt etwas als harmlos daher, das es mitnichten ist.

Mehr explizit verhandelte Inhalte hatte die Veranstaltung davor: »Weiterforschen: Das Erbe der Zukunft«.
Hier diskutierte Lukas Bärfuss mit James Poskett und Andreas Weber. Beide sind in gewissem Sinne Kritiker der heute betriebenen Wissenschaft, aber mit sehr unterschiedlichem Ansatz. Posketts Buch »Neue Horizonte. Eine globale Geschichte der Wissenschaft« (Piper) setzt sich kritisch mit dem Gründungsmythos moderner Wissenschaft auseinander, welcher diese als Produkt der Pioniertaten einzelner Europäer begreift. Dem hielt Poskett entgegen: »Science was not a product of a unique European culture. Rather, modern science has always depended upon bringing together people and ideas from different cultures around the world.« Der Austausch sei keineswegs immer friedlich vonstatten gegangen: »Seventeenth-century astronomers travelled aboard slave ships, eighteenth-century naturalists worked for colonial trading companies, nineteenth-century evolutionary thinkers fought in industrial wars, and twentieth-century geneticists continued to promote racial science throughout the Cold War.« Posketts Ansatz als Wissenschaftshistoriker will die ideologischen Verflechtungen von Wissenschaft zeigen (ein Ansatz, der sicher auch in Bezug auf die von Gaub verwendeten Studien anwendbar wäre), ohne dass er die wissenschaftliche Methode oder Rationalität verwerfen würde.
Schwammiger war Webers Ansatz. Weber kommt von der Biologie her, und verfolgt - in der Tradition seines »biologischen Lehrers« Francisco Valera - einen Ansatz, der »Lebewesen« generell nicht in cartesianischer Tradition als Maschine, sondern als »Subjekte« oder »Selbste« begreifen möchte und noch der Zelle »Autopoesis« zuschreibt, der der Natur selbst also »so etwas wie Bedeutungshorizonte, einen Sinnhorizont« unterstellt. Natur sei eine große »Allmende«, alles sei im Austausch, der Subjekt-Objekt-Gegensatz der gängigen Wissenschaft ergo ein naturverkennendes Übel.
Als Lukas Bärfuss die Frage stellte, wie sich auf der Basis einer solchen Anschauung noch Ethik formulieren lasse, geriet Weber in die Nebelfelder des sehr Ungefähren: »Gucken wir mal, wie eine Ethik der Gegenseitigkeit in einem Kosmos, der fundamental lebensspendend ist, sein könnte, in einem Kosmos, in dem wir grundsätzlich willkommen sind.« Auch auf Bärfuss‘ Frage, wie er mit der Zustimmung aus dem Klimakrisen-Pandemie-Leugner-Lager umgehe, wusste Weber nicht viel mehr zu sagen, als dass er die Tatsache, dass es solche Zustimmung gebe, schrecklich fände, das sei bitter, das sei ein richtig großes Problem. Dass er das so empfindet, will ich ihm gern glauben, aber damit ist noch nichts gesagt. Im offen bekannten metaphysischen Kern des Weber’schen Überzeugung, dass real existierende Kulturen Varianten auf etwas Invariantes seien, steckt ein Verhängnis, gegen das es auch nichts half, dass er sich auf Poppers stete Weiterentwicklung der Erkenntnisse berief. Hier hätte man weiterbohren müssen, hätte man denn die Zeit gehabt. Lukas Bärfuss hatte nicht unrecht, als er am Ende der Veranstaltung sagte: »Ich habe das Gefühl, wir hätten gerade erst begonnen.«
Ich habe Posketts Buch noch nicht gelesen (habe es aber vor; es scheint mir lohnend). Webers Buch (es ist das kürzere) indes schon - und ich möchte daher versuchen, die gerade erst begonnene Debatte zumindest um ein paar kritische Anmerkungen zu ergänzen.

In seinem gleichnamigen Buch plädiert Weber für »Enlivenment« (Matthes & Seitz): das Wort ist bewusst als Gegenstück zu Enlightenment, also Aufklärung, gewählt. Webers Aufklärungskritik kommt als partielle Aufklärungsaffirmation daher und lässt sich ungefähr zusammenfassen als »Aufklärung schön und gut, aber da muss doch noch ein bisschen mehr sein, da fehlt doch was!« Das ist, für sich genommen, nicht originell.
Während die Aufklärungskritik in der Tradition der Frankfurter Schule wusste, dass sie anders als immanent, anders als in der Form rationaler Reflexion gar nicht stattfinden kann, postulieren die Vertreter der Aufklärung-Plus gerne, dass zu einer (in sich nicht wirklich kritisierten, sondern bloß je nach Laune beiseitegeschobenen) Aufklärungsrationalität sich das »Andere« gesellen müsse, das dann aber gar nicht mehr rational erfassbar ist, sondern etwa in den reichhaltig-trüben Tümpeln des kollektiven Unterbewusstes (bei Jung) oder steiner’sche Geisteswelten besteht. Bei Weber ist dieses Andere die »Lebendigkeit«, die »Autopoesis«, die angebliche Subjekthaftigkeit von allem Lebendigen.
Bezeichnend ist, wie Weber sich von Aufklärungskritik im Sinne etwa der »Dialektik der Aufklärung abgrenzt: »Aber die Kritiker der Aufklärung hatten kein positives Alternativkonzept. Sie konnten nur warnen, nur weiteren Verdacht gegen das Humane aussprechen, und mussten so als mahnende Misstrauische noch schärfere Aufklärer werden.« (S. 26)
Also wieder das Positive wird eingeklagt, der gute Gegenentwurf.
Dass Menschen in Positionen, die ihnen Entscheidungen abverlangen, Handlungsentscheidungen bestenfalls aufgrund immer partikularer, fragwürdiger, konkreter, verkürzter Erkenntnis-Bruchstücke treffen müssen und dabei konkret-situativ »Richtigeres« brauchen, mag so sein; aber Theoriebildung kann nicht unmittelbar unter die Anforderung gestellt werden, »Lösungsansätze« und positive Gegen-Punkte zu liefern. Unbehagen an der Gegenwart muss wenigstens dort, wo es Theorie wird, die eigene Negativität aushalten können und nicht Atemtechniken als das bessere Sein preisen (unzufällig gewähltes Beispiel).
Mag Webers Ansatz exzentrisch und insofern gar nicht gefährlich wirken, diese Verpflichtung der Theoriebildung aufs Positive, welches sie gefälligst zu liefern habe, ist etwas sehr Gängiges: Kaum ein Buch, das ich im Kontext des Forums in die Finger bekommen habe, das Theorie ohne praktische Handlungstipps fürs richtige Handeln auch in der irgendwie nicht ganz so richtigen Welt enthielt, kaum ein Buch, das ganz ohne Erbauungsphrasen auskam. Weber gelangt zur ersehnten Positivität, indem er Begriffe aus der Philosophie und Wissenschaft (also aus sich an ihre Gegenstände annähernden, sich idealiter aber nicht mit ihnen identisch setzenden) Diskursen nimmt und sie mit eigentlich metaphysischen Inhalten füllt. So vermeint er, mit dem großen Begriff auch gleich den Gehalt in Händen zu haben. Und flugs wird aus dem Sein (der Natur), das begriffen und erkannt zu haben Weber auf jeder Seite suggeriert, ein Sollen: und die angebliche Ökonomie der Natur zum Vorbild dessen, was Weber sich als menschliche Ökonomie wünscht. Ganz, als säßen wir ungebunden im leeren Raum und müssten vom grünen Tisch aus überlegen, wie wir nun eine hübsche »richtige« Ökonomie aus dem Nichts aufbauen.
Fatal - und das in höchstem Maße - ist Webers unbekümmerter Gebrauch des Begriffs »Subjekt«. Man könnte sicher auch andere alternative Begriffe zum gleichmachenden »Objekt« finden, um zwischen Kieselstein, Kopfsalat und Kolkrabe Unterschiede zu machen, oder meinetwegen auch, um lebendige Zellen von Sandkörnern zu differenzieren. Aber in einem Atemzug von »menschliche[n], tierische[n] und pflanzliche[n] Subjekte[n]« (S. 14) zu sprechen, führt zu einer Inflation der Subjekte, die den Begriff leer macht und die Unterschiede quasi von der anderen Seite her nivelliert. Und die Tatsache, dass wir eben nicht so ganz ein Schleimklumpen im warmen Moor sind, wird nahezu unartikulierbar. Eine angebliche Ethik, der es nur um ein abstraktes Lebendiges geht, tut sich schwer damit, zu begründen, wieso Millionen von Bakterien dahinscheiden müssen, auf dass ein einziger Mensch von der Tuberkulose geheilt werde (Wie überhaupt Ethik schwer dort formulierbar ist, wo das, was ist, das bloße, angeblich verbürgte Seiende, als Vorbild etabliert wird). Eine Philosophie, die den Tod als »Möglichkeit, sich eines Tages zum Geschenk an die Welt zu machen« (S. 80) begreift, birgt unter ihrer lau-sanften Sprache ziemliche Ungeheuerlichkeiten. Derartige Gleichsetzung des Sterbens von (todes)bewussten Individuen und dem Absterben einer Zelle, sowie eine derartige, eindeutige Rangfolge von »Gemeinschaft« (hier: des Lebendigen überhaupt) und Individuum driftet in die Nähe des faschistischen »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, gleich, wie sehr Weber das nicht möchte. Seine Form der Aufklärungsergänzung attackiert nicht die Mängel der Aufklärung, sondern kompensiert sie mit anderen Mängeln. Alles nichts als ein neuer Aufguss vom Jargon der Eigentlichkeiten: kein Wunder, dass Webers Lieblingswort in seinem Buch existenziell lautet. Egal wie müde man vom vielen irgend-falschen Denken ist: Man kann sich die Arbeit der Reflexion nicht ersparen, indem man den Kopf in die Ursuppe tunkt.

Und am Schluss dann kam, zum Glück, Michael Lentz auf die Bühne, zusammen mit Elektro-Musiker Gunnar Geisse, mit Saxophon und Sopran-Saxophon, saß da wie aus einem Dix-Gemälde geklettert, spielte und las und fegte die Jargon-Überreste der drei lächelnden Zukunftsmanagerinnen aus dem Saal. Die Lyrik war komplex: Ob Lentz schreiben kann, muss ich nachlesen - aber dass er lesen kann, das habe ich gehört.

Gunnar Geisse & Michael Lentz am 24.11.23 © Pierre Jarawan

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(Header: © Pierre Jarawan)