Keynote von Luisa Neubauer
»Schreibt über den Sonnenuntergang, der sich jeden Tag aufs Neue ins Zeug legt, als wäre es das letzte Mal! Ein Aufruf in harten Zeiten«
Keynote von Luisa Neubauer anlässlich der Eröffnung des LITERATURFESTS MÜNCHEN am 2. April 2025
Es wird wärmer und es wird autoritärer auf der Welt. Und er? Er arbeitet. Auf Hochtouren. Von unten nach oben, in rhythmischen Schwüngen, es blinkt, es funkt, zu nah vor deinem Gesicht, zu spät am Abend, morgens vor dem ersten Kaffee. Solange dein Daumen von unten nach oben, nach unten nach oben schwingt, solange geht es weiter, solange gibt es Bewegung in der Welt, aber die gute Bewegung, die unterhaltsame, die mit Pointe und Plottwist. Solange der Daumen arbeitet, ist die Welt noch nicht vollständig im Chaos versunken.
Es wird wärmer und es wird autoritärer auf der Welt. Aber vor unseren Augen ist die Welt noch unter Kontrolle, sorgsam angeordnet auf Einhundertfünfundzwanzig Quadratzentimetern in der eigenen Hand. Man könnte nun annehmen, dass wir die Welt verstehen, solange wir sie konsumieren. Man könnte annehmen, dass wir immer mehr sagen, bloß weil wir mehr sagen. Man könnte annehmen, dass die Welt dort Sinn ergibt, wo mehr Worte fallen. Dabei sagen wir zwar immer mehr und doch gleichzeitig: viel zu wenig.
Unsere Daumen imitieren ein Weltverständnis, das im Kern keines ist. Das Schweigen ist groß, bloß erfolgreich versteckt. Und ich mache mir Sorgen. Ich mache mir Sorgen, dass wir aufgeben, jetzt, wo es so sehr auf uns ankommt. Dass wir blind zulassen, wie sich nichts sagende, fremdgesteuerte, Welt- und wertlose Wörter und Phrasen in jeden Quadratmillimeter unseres Bewusstseins quetschen, und wir darüber hinaus vergessen, nach Sinn zu suchen, nach Liebe, nach Verstand, nach Heilung. Nach Wahrheit, nach Wahrhaftigkeit und nicht zuletzt: Nach Wirklichkeit.
Es soll heute um die Sprache gehen und um den Mut.
Und wie bei allen großen Weltwundern mit Selbstverständlichkeits-Status, lässt sich die Sprache dort verstehen, wo sie fehlt. Wo fange ich an? Bei mir, ganz persönlich. Ich hab mich auf die Suche gemacht nach der Leere, nach den Momenten, wo nicht die Sprache, sondern die Sprachlosigkeit regierte. Dreimal – soweit ich das überblicken konnte – war das der Fall bisher. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich die Sprache nicht gesucht, sondern gefunden. Und doch halte ich diese drei Sprachlosigkeiten nicht für Unfälle oder Ausfälle, sondern für ein Symptom. Aber dazu kommen wir später. »Selig sind die Sanftmütigen«, erklärte man 1998 am Taufbecken, »denn sie werden das Erdreich besitzen«. Was Sanftmut sein sollte oder ein Erdreich, wusste ich auch Jahre später noch nicht, aber die Sprache klang nach dem, was sie sein sollte für mich: Ein Zuhause.
In der Krachmacherstraße lernte ich die Kindheit lieben, mit Grimms Märchen fiel ich in den Schlaf. Meine erste Fremdsprache hörte ich noch vor der Schule, sie kamen morgens aus der Küche: Tut-tut-tut, und dann legten sie los, die Männer im Deutschlandfunk, in einer Sprache, aus einer anderen Welt. Was-le-fas, solls-le-fols, dachte ich, Geheimsprachen hatten wir Kinder schließlich auch. Je mehr Sprache in mein Leben kam, umso größer wurde die Welt und ich liebte es. Mykorrhiza hieß: unter meinen Füßen wächst ein neues Reich, Cumulus hieß: Im Himmel ist mehr als Himmel.
In der Küche meiner Großmutter lernte ich Mascha Kaléko kennen und mit ihr eine Sprache, die warm sein durfte und wild – und alles zugleich: »Jage die Ängste fort. Und die Angst vor den Ängsten (...) Zerreiß deine Pläne. Sei klug Und halte dich an Wunder.« Ich lernte eine Sprache kennen, die mit ihren Aufgaben wächst, die selbst in die tiefsten Täler herabsteigt: »Am nächsten Morgen lief Anna in Pa¬pas Zimmer, um ihn zu besuchen,«, las ich in der 6. Klasse. »... Das Bett war or¬dentlich gemacht. Papa war fort.« Ein Rosa Kaninchen gegen das Unbegreifliche. Ein Wort nach dem anderen, bis sich die Welt wieder dreht. Und selbst dort, wo die Sprache der Wörter endete, ging es weiter: d - a - h - c - c - d - e - f, Chopin in a-Moll, ich am Klavier nach dem Abendessen, mein Vater neben mir auf dem Sofa, mit Tränen in den Augen. »Alles, was ich je wollte, war, von ihr geliebt zu werden und aus meinem Leben etwas Bedeutendes zu machen. Jetzt schau mich an. Ich meine, schau mich an«, schrieb John Green über die erste Liebe, und ich stellte fest: Selbst dafür gab es die richtigen Worte.
Ab dem ersten Semester lebte ich nicht länger in der Gegenwart, ich lebte im »Anthropozän«, und das erfuhren alle um mich herum. Wie euphorische Handwerker wurden kleine und große Unbegreiflichkeit verfremdwortet, wir fragten nicht mehr, wie gehts dir? wir fragten, wie geht es dir – in den performativen Widersprüche einer singularisierten Gesellschaft? Drei Wochen Einführung in die Soziologie, und es wurde undenkbar einen einzigen Tag zu verleben, ohne von Ambi¬guitätstoleranzen zu sprechen, drei Wochen im Geographische Grundlagenkurs und es wäre unverantwortlich, das eigene Umfeld nicht in aller Regelmäßigkeit über das hydrostatische Gleichgewicht der Erdkruste aufzuklären (ich freue mich über das wohlwollende Nicken hier im Publikum), geradezu verstörend die Vorstellung die norddeutsche Tiefebene zu queren, ohne den isostatischen Ausgleich zu kommentieren, der seit Jahrmillionen für ein seichtes Anheben Nordeuropas sorgt.
Erwachsen werden hieß, dass von nun an alles in der Welt mit dem Wort »komplex« ausgestattet werden durfte. Wir wurden zu Sprachjongleuren, wo Worte wuchsen, da wuchs die Welt und wir wuchsen auch. Und selbst, wenn wir es mal nicht taten, dann wuchsen wenigstens die Worte und die Worthülsen, und das fühlte sich gut an, übermütig, überheblich, über alles.
Die erste Sprachlosigkeit:
Die erste Sprachlosigkeit kommt, als mein Vater geht. An meinem 20. Geburtstag beerdigen wir einen Mann, der den Kampf gegen den Lungenkrebs verloren hatte. Stille schleicht nicht, Stille bricht. Nichts, was man mir in dieser Zeit sagt, ist groß genug, um zu greifen, was hier passiert, kein Wort passt zu meinen Gefühlen, zu meinem Vermissen, das Klavier gucke ich nicht mal mehr an. Halbwaise sagt Behörden-Deutschland, »die Arme Kleine« murmelt die Beerdigung, »Scheiße« schreiben meine Freunde. Die Sprache, die ich kenne, war so gut darin zu benennen, was wächst, was es zu entdecken gibt, was in mein Leben kommt. Und so nutzlos darin, zu greifen, was geht. Was nie wieder kommen würde.
Die zweite Sprachlosigkeit hat 563,000 Views auf Youtube. Ich bin Mitte zwanzig, ich bin Klimaaktivistin, ich sitze in einer 1,2 Grad heißeren Welt, auf zu weichen Sesseln neben Thomas de Maizière, zu Gast bei Markus Lanz. Ich weiß nicht mehr welche Jahreszeit es war, aber es war natürlich eine Rekordjahreszeit. Jahrelang hatten wir Mehrheiten für Klimaschutz erkämpft, hatten die Bundesregierung ver¬klagt, hatten von Hochwasser Betroffenen im Ahrtal geholfen, und seit endlosen Minuten im ZDF und seit endlosen Jahren in der deutschen Öffentlichkeit erklärte man mir nun, warum der Schutz unser aller Lebensgrundlagen aktuell »leider« warten müsste. Ich gucke mich um, und dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Eigentlich möchte ich aufstehen, möchte brüllen, möchte alles schütteln. Denn was könnte ich sagen, dass die Welt nicht längst schon gesagt hat, wie wagen sie es hier zu sitzen, und ausgerechnet mir Verständnis für ihre Ausreden abzuverlan¬gen. Aber ich mache nichts davon, ich bleibe sitzen. Wenn die Sprache fehlt, bei einer Beerdigung wird es leise, wenn die Sprache fehlt im Fernsehen, dann wird es laut. Stille ist nicht vorgesehen in der politischen Debatte. Stattdessen werden Worte hektisch aneinandergereiht, alles, um die Hilflosigkeit loszuwerden, die ver¬gebliche Suche nach den richten Worten zu verschleiern. Und so sitze ich da und forme Sprachgebilde aus 15 Nebensätzen. Reihe mich ein in eine routinehafte Be¬sprechung vom Ende der Welt, mache mit, wie wir unausgesprochen den Eindruck festigen, das Problem sei schon halb behoben, weil wir es mal wieder engagiert be¬sprochen haben.
Die dritte Sprachlosigkeit ist wenige Monate her, ich bin Ende zwanzig, es ist kalt in Norddeutschland und kalt im deutschen Wahlkampf. Ich stehe in einem Geschenk der letzten Eiszeit, in einem See neben einer Jungmoräne. Aus der Ferne sieht man nur meine Mütze auf der Wasseroberfläche wanken, über mir ein grauer Tag, unter der Mütze zähle ich bis hundert, dann schwimme ich zum Ufer, und laufe zurück zum Haus. Und dann passiert es. Mit pochenden Beinen und dampfenden Atem werfe ich zufällig, nebenbei, ja praktisch aus Versehen einen kurzen Blick zurück zum See. Und erstarre. Als hätte sich die Welt abgesprochen, bricht die Winter-Sonne durch Wolken, aus dem Wasser wird ein Glitzermeer, so hell, die Tränen kommen, ein einzelner Vogel quert den Himmel, mühelos, elegant. Die Kontraste: auf Anschlag. Das Ensemble: Perfekt. Die Stille: So laut, mit Leben gefüllt und mit Schönheit, als hätte sich der Augenblick vorgenommen, eine Ode an sich selbst zu schreiben. Und ich beginne zu denken, dass alles, was es in der Welt gibt, in diesem Moment ist, dass ich unwahrscheinliche Zeugin bin, von einer molekularen Vollversammlung des Universums. Und dann ist alles vorbei, das trübe Grau kehrt zurück, die Sonne verschwindet, der Vorhang fällt, in meinem Kopf probiere ich zu formulieren, was ich gerade erlebt habe, aber ich habe die Worte nicht.
Drei Sprachlosigkeiten in meinem Leben. Drei Sprachlosigkeiten, die sich zufällig – oder ausgerechnet – um Vergänglichkeit, Ungerechtigkeit und die Schönheit der Welt drehen. Warum mich das bewegt? Die Welt im 21. Jahrhundert wird zunehmen eingenommen von Verlust, von Ungerechtigkeiten und von einer verlorenen Schönheit. Bestünde in dieser Schicksalsphase der Menschheit ausgerechnet hier ein Mangel an greifbarer Sprache, Formen, Bildern, Wörtern, wie sollten wir in dieser Zeit die Welt durchdringen? Wie sollten wir verstehen, was um uns und in uns passiert? Wie sollten wir erkennen, was zu tun ist, was es zu bekämpfen und zu verteidigen gilt? Wie sollten wir lernen, eine Welt zu lieben, in der die bedingungslose Liebe längst ein Akt des Widerstandes geworden ist? Was mich ebenfalls bewegt: sollte eben hier eine große Sprachlosigkeit vorherrschen, dann wäre das nicht mal mehr eine Überraschung: Seit es einen Klimadiskurs gibt, gibt es das Anliegen, ihn zu verschleiern. Angefangen mit den großen fossilen Konzernen, die im 20. Jahrhundert unter den ersten waren, die die Klimakrise erforschten und in Sorge um ihr Geschäftsmodell umgehend anfingen, die Klimakrise zu leugnen und die unabhängige Wissenschaft zu diskreditieren. Ein Fakt war in der Klimakrise noch nie ein Fakt. Was davon bis heute bleibt: Fossile Konzerne, die zuletzt 100 Millionen US-Dollar in die Wiederwahl des Klimaleugners Donald Trump steckten, und Klimadebatten, die sich wie selbstverständlich um die Frage drehen, ob es wirklich so schlimm ist – statt der Frage nachzugehen, was genau jetzt getan wer¬den könnte, um Schlimmeres zu verhindern. Während Ölkonzerne desinformiert haben, wurde an anderer Stelle erfolgreich dafür gesorgt, die größte, omnipräsente, allumfassende Krise der Menschheit als ein technisches Wohlfühl-Problem zu verklären. Das gelingt bis heute vor allem dort, wo Klima-Sprache nicht erschaffen, sondern kopiert wird. Etwa, wenn die wissenschaftliche Sprache der Geophysik, 1:1 übernommen wird, um die politische Öffentlichkeit zu mobilisieren. Wenn in der Wissenschaftskommunikation von einem Treibhauseffekt gesprochen wird, ergibt das Sinn. Wer in der Politik die für uns wohl gefährlichste Dynamik auf das Wort »Treibhauseffekt« reduziert, erschafft erfolgreich ein Klimaverständnis, das uns als Ingenieure und die Welt als sanierungsbedürftiges Hochhaus darstellt. Es ergibt Sinn, dass in der Wissenschaft Wege Richtung CO2-Neutralität gesucht werden. Es ist absurd, politischen Willen, und öffentliche Zustimmung ausgerechnet unter dem Titel CO2-Neutralität zu suchen. Das löst nichts aus, das sagt nichts aus, ist es zu viel verlangt eine Runde zu übersetzen, sich ernsthaft zu fragen, mit welchen Worten und Begriffen man womöglich weiterkommt?
Die tragende Vision für eine Zukunft ohne Klimakollaps wird bis heute unter der charismabefreiten Überschrift »sozial ökologische Transformation« zusammengefasst, eine fantastische Terminologie für die Sozialwissenschaft, eine Katastrophe im öffentlichen Diskurs. Und so vergeht die Zeit. Wir erleben eine Parteienlandschaft, die an großzügigen Tagen über »Emissionsreduktionsziele, Brückentechno¬logien und Netzentgelte« spricht, um später in aller Unschuld eine überlastete Verhaltensforschung zu befragen, warum Menschen in Sachen Klimaschutz noch nicht jubelnd auf den Straßen stehen. Und auch jenseits der Politik, im Alltag, im Leben, sieht es nicht viel besser aus: Das, was wir täglich atmen und essen, wovon wir abstammen und wohin wir zurückgehen, ist nicht die Welt, oder die Mit-Welt, nein es ist die sogenannte »Um-Welt«, die man an wohlwollenden Tagen beach¬ten und besichtigen könnte, eine Um-Welt, die uns aber keinesfalls im Wege stehen darf. Unserer Rolle hat man dabei den liebevollen Titel »Verbraucher«, gegeben, undenkbar wäre es einfach zu brauchen oder zu gebrauchen, nein man muss ver-brauchen, nach uns die Sintflut. Und letztendlich stehen wir vor dem Wort Klimaschutz – als müsste das Klima geschützt werden und nicht die Menschheit, als ginge es um das Privatproblem von Klima-Aktivisten, als sei die Welt um uns, ein Hobby, eine kleine Pilates-Stunde, für die man Zeit und Geld hat, oder eben nicht.
Also scrollen wir weiter, machen nebenbei den Fernseher an, da sieht man hingegen die herrlichen Dokumentationen über entfernte Vulkane, über sterbende Korallen oder seltene Arten, melodisch kommentiert, Reisen in fremde Welten. Doch ist das auch unsere Welt? Finden wir hier den Blick für unsere Rolle bei all dem? Den Blick, für das, was direkt vor uns passiert und IN UNS, für den Verlust im Kleinen, für die ökologischen Existenzfragen in unserem Alltag? Solange ich auf dem Kilimandscharo stehen muss, um mich in die Welt zu verlieben, frage ich mich, ob wir überhaupt an die Liebe für die Welt glauben. Rechtsradikale, Klimaleugner und fossile Konzerne freuen sich, sie treiben all das voran mit massenweisen Desinformationskampagnen und Greenwashing, weswegen eine durchschnittliche TV-Diskussion zur existenziellen Klimakrise selbstbewusst der Frage nachgehen kann, ob Windräder im Vergleich zu autokratischer Gasversorgung eine Überforderung darstellten, und ob sich der Markt erst einmal beruhigen müsste, bevor man mit dem Klimaschutz weiter machen könnte. Als würden auch die kollabierenden Ökosysteme abends einschalten und sich mit Blick auf den ganzen Stress, den wir haben, verständnisvoll zurücknehmen. Wie das im schlimmsten Falle aussehen kann, erlebt man heute in den USA. Da wäre es mittlerweile nicht mehr abwegig, dass ein erwachsender Mann und Abgeordneter mit Uni-Abschluss im US-Kongress zu Protokoll gibt, sich von dem Wort »Klima« getriggert zu fühlen, um dafür auch noch Applaus zu erwarten. Das alles wird möglich, sobald maßgebliche Treiber des Klimadiskurses jene sind, die selbst nicht den Funken von Interesse an einem wahrhaftigen Klimadiskurs haben.
Im Jahr 2025 lässt sich festhalten:
Wenn die Sprache, mit der wir unser aller Existenz, die größten Verluste und größten Chancen besprechen, nicht von uns kommt, die diese Sprache suchen, dann gibt es sie nicht. Wenn diese Sprache nicht mit einer Rigorosität gesucht und geformt wird, als ginge es um alles, dann setzen wir alles aufs Spiel. Sprache schafft Wirklichkeit. Und vielleicht ist der Lauf der ökologischen Geschichte dann doch kein so großes Wunder. Es wäre aber ein Drama, wenn das so bliebe. Die Welt steht unter Beschuss, und so steht die Sprache, der Diskurs und die Wahrheit. Was einst ein Kampf um möglichst wenig Emissionen und um den Schutz der Ökosysteme war, ist heute immer auch ein Kampf um die Wahrheit und die Verteidigung der Sprache, der Verteidigung vom Recht, nicht nur mitgemeint, sondern benannt zu werden. Wir stehen vor einem Kampf für eine Klima-Sprache, die nicht nur aus der Physik, sondern auch aus dem Herzen kommen darf, die nicht über die Welt spricht, sondern zu ihr, mit ihr, in ihr. Eine Sprache, die es wagt, in die Zukunft zu denken, die Wahrheit zu suchen und zu erträumen. Ein Kampf um die Freiheit, sich jeden Tag neu in die Welt zu verlieben, nicht trotz, sondern wegen aller Krisen dieser Zeit. Was wäre, wenn wir anerkennen, dass die Welt uns gerade braucht, um multilingualer denn je zu werden, um gleich eines planetaren Orchesters auf allen Tonlagen, in allen Arten und Formen zu sprechen? Was wäre, wenn wir annehmen, dass viele von diesen Sprachen noch gefunden werden müssten? Allem voran eine Sprache, die sich dem Anspruch annähert, wahr zu sein und schön gleichermaßen. Bewegt und bewegend, nicht nur praktisch oder bequem, sondern ehrlich. Was wäre, wenn wir mutig sind?
Dies ist ein Aufruf. Ein Aufruf innezuhalten, im Dauerrauschen, im Dauersenden. Das braucht Mut – gerade in einer Zeit der maximalen Polemik, der Breitbeingkeit, der Ausrufezeichen.
Das ist ein Aufruf zu fühlen, hinein in das Schweigen und in die Sprachlosigkeit. Ertasten wir das Unwohlsein. Entdecken wir noch einmal neu, was es heißt Mensch zu sein, in einer Welt unter Dauerbeschuss, einer Welt, die wir immer auch sind, die wir ein- und ausatmen. Jeden einzelnen Tag.
Dies ist ein Aufruf, die Wahrheit nicht loszulassen in Zeiten der Lügen. Lassen wir uns nicht entführen in eine Sprache der Zerstörung, der Manipulation und Ausbeutung. Lassen wir nicht zu, dass unser moralisches Urteilsvermögen vernebelt wird von einer Dauerbeschallung des autoritären, des routinierten Herabredens noch der größten Ungerechtigkeiten. Lassen wir nicht zu, dass Algorithmen mächtiger werden als unsere Haltung, dass wir unsere Werte, unsere Gefühle, unseren Blick für das Wesentliche weg-scrollen, weil es einem Tech-Konzern so gefällt.
Dies ist ein Aufruf an die Welt der Literatur. Kommt uns allen und der Welt zu Hilfe. Schließt euch denen an, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten angefangen haben, den rhetorischen Widerstand gegen die ökologische Sprachlosigkeit zu formen. Schreibt die Geschichten von Menschen, die sich in die Welt verlieben, von den endlosen Abschieden unserer Welt, und wie sie einmal war, von den extremen Abschieden, von den weichen, den zarten. Schreibt Geschichten über die Welt, die auch dann strahlt, wenn niemand guckt. Schreibt von den letzten Tagen der Gletscher, die auch dann sterben. Schreibt über den Sonnenuntergang, der sich jeden Tag aufs Neue ins Zeug legt, als wäre es das letzte Mal. Schreibt über die kleinen Seelen, die gerade vergessen, dass es nicht nur zu hassen, sondern so viel zu lieben gibt. Schreibt für die Großen, die aufgerüttelt werden sollten, deren Daumen abgelöst werden müssen, von einem Ruck, der durch die Gesellschaft geht. Lernt neue Sprachen, um alles in der Welt. Damit wir ein paar der Sprachen verlernen können. Tut nicht länger so, als könnte man sich aussuchen, ob man »die Ökologie« mitdenkt oder nicht. Unsere Tränen sind der Regen des nächsten Tages, es gibt zwischen uns und der Welt nur solange Mauern aus Unverständnis, solange wir sie nicht einreißen.
Dies ist ein Aufruf an die Menschen. Lass uns unsere Ansprüche an ein wahrhaftiges Sprechen nicht an denen ausrichten, die gar kein Interesse an einem solchen Sprechen haben. Erwachsene Männer, die sich von den banalsten Erkenntnissen über unsere Lebensgrundlagen überfordert fühlen, sollten nicht den Standard setzen für die Art und Weise, wie wir die Welt besprechen. Es sollte nicht radikal sein, sich schreibend oder sprechend oder protestierend, im Beruf oder auf der Straße gegen fossile Zerstörung zu wehren. Es sollte radikal sein, es nicht zu tun. Die Welt braucht mutige Menschen. Während unsere Lebensgrundlagen, unsere Demokratie und die Wahrheit im Sturm steht, während der Hass immer lauter wird, brauchen wir Mut in der Sprache, und Mut auf der Straße. Es braucht Mut, laut zu werden und Mut, die Sprachlosigkeit anzuerkennen. Es braucht Mut, um für Gewissheiten zu kämpfen und Mut, den Zweifel zuzulassen. Mut ist nicht die Abwesenheit der Angst, es ist das Loslegen trotz der Angst. Es ist die Gewissheit, dass irgendwer nur darauf wartet, sich dem Anschließen zu können.
Dies ist ein Aufruf in harten Zeiten. Manche sagen, wir haben doch alles versucht. Ich sage, wir fangen gerade erst an.
© Luisa Neubauer
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