Andrej Kurkows Rede zur Eröffnung des Literaturfestes 2022
16.11.2022
Der fruchtbare Boden der Ukraine ist daran gewöhnt, als Versteck zu dienen. 1917, während der Revolution und dem darauffolgenden Bürgerkrieg, vergruben ukrainische Bauern Geld und andere Wertsachen in ihren Gärten, in der Hoffnung, sie wieder ausgraben zu können, sobald sich die Lage stabilisierte. Während des Holodomor, der organisierten Hungersnot zwischen 1932 und 1933, als die Rote Armee von Haus zu Haus zog und den Bauern ihr Getreide wegnahm, vergruben sie säckeweise Weizen, Gerste und andere Lebensmittel. Im Westen der Ukraine vergruben die Bauern nach 1945 Waffen in der Nähe ihrer Häuser, die sie dann wieder ausgruben, gegen die Sowjetdiktatur zu kämpfen. Bis heute birgt der Boden der Ukraine tausende ungehobener Gegenstände.
Vor Kurzem reiste meine Kollegin, die Schriftstellerin Victoria Amelina, in das von den russischen Besatzern befreite Dorf Kapytoliwka unweit der Stadt Isjum in der Region Charkiw. Dort grub sie unter einem Apfelbaum das Tagebuch des bekannten ukrainischen Kinderbuchautors Volodymyr Vakulenko aus. Das handschriftliche Tagebuch steckte in einer Plastiktüte. Es hatte nur sieben Monate im Boden gelegen.
Anfang März dieses Jahres hatte Volodymyr es selbst dort unter dem Apfelbaum versteckt, nachdem die russischen Besatzer ihn nach ersten Schlägen und Verhören wieder nach Hause gelassen hatten. Er hat wohl geahnt, dass es bei diesen Schlägen nicht bleiben würde. Er vergrub das Tagebuch im Beisein seiner alten Eltern. Am nächsten Tag holten die Invasoren ihn erneut zur Vernehmung, und seitdem hat niemand mehr etwas von Volodymyr Vakulenko gehört.
Volodymyr war ein sehr aktiver Intellektueller aus der Region Charkiw. Wir wissen noch nicht, was er alles durchmachen musste. Schließlich haben sie nicht nur ihn verschleppt, sondern auch seinen autistischen Sohn Vitaly. Der Junge im Teenageralter wurde später freigelassen. Er lebt jetzt bei seinen Großeltern. Sein Vater kam nie wieder nach Hause.
Nach der Befreiung der Stadt Isjum und ihrer Umgebung wurden in den Wäldern rund um die Stadt etliche Massengräber gefunden und mehrere hundert einzeln beerdigte Tote. Manche Gräber waren mit Nummern gekennzeichnet, andere mit Namen, aber viele der Gräber dort im Wald waren weder nummeriert noch mit Namen versehen. Irgendwann fand sich in der Leichenhalle von Isjum ein Verzeichnis mit Notizen zu den eingetroffenen Leichen, und inmitten dieser Aufzeichnungen wurde auch der Name Volodymyr Vakulenko entdeckt, mit dem Hinweis, er sei in Grab Nummer 319 beerdigt. Das Grab wurde unlängst geöffnet, die Leiche darin exhumiert. Es handelte sich um eine Frau. Wo Volodymyr Vakulenko begraben ist, weiß weiterhin niemand. DNA-Tests sind die einzige Möglichkeit, diese Toten zu identifizieren. Es ist eine gewaltige Aufgabe.
Wo Oleksandr Kislyuk begraben liegt, ist seit Langem bekannt. Er war Universitätsprofessor und Übersetzer aus dem Altgriechischen und Lateinischen – und wurde ebenfalls Anfang März von russischen Soldaten getötet, allerdings in Butscha in der Nähe von Kiew, direkt vor seiner Haustür. Die von ihm übersetzten Werke griechischer Philosophen, darunter auch Aristoteles, werden im ganzen Land weiterhin in den Buchläden verkauft. Unter denjenigen, die auf dem Schlachtfeld gefallen sind oder schlicht von russischen Kugeln und Raketen getötet wurden, sind Dutzende ukrainische Kulturschaffende.
Dieser Krieg zwischen Putin und der Ukraine spielt sich auf drei Ebenen ab. Handelt es sich auf der niedrigsten, grundlegendsten Eben um einen Eroberungskrieg, ist es auf der höchsten, der geopolitischen Ebene ein Krieg des Kollektivs Putin gegen den kollektiven Westen und die demokratischen Werte. Auf der zweiten Ebene jedoch ist es ein Krieg gegen die ukrainische Identität.
Ich selbst bin gebürtiger Russe, aber ein Bürger der Ukraine, und damit sind für mich die ukrainische Kultur und Geschichte meine Kultur, meine Geschichte. Ukrainisch ist eine der Sprachen, die ich spreche. Ich habe es als Jugendlicher im russischsprachigen Kiew gelernt. Die Beherrschung der Landessprache – Ukrainisch – gehört zu den heiligen Pflichten der Vertreterinnen und Vertreter aller ethnischen Gruppen im Staatsgefüge der Ukraine.
Die ukrainische Bevölkerung hatte nie einen eigenen König, was wiederum bedeutet, dass sie keine tief verwurzelte Furcht vor einem König oder vor der Macht spüren. Jede Ukrainerin, jeder Ukrainer glaubt, die Politik des eigenen Landes mit beeinflussen zu können. Russinnen und Russen dagegen sind fatalistisch und glauben, in Russland absolut nichts beeinflussen zu können. Ihnen bleibt nur, das Land zu verlassen, wenn sie sich bedroht fühlen oder das Leben dort gefährlich oder wirtschaftlich prekär zu werden scheint.
Ich will die russische Bevölkerung nicht dafür kritisieren, dass sie zugelassen hat, dass Putin die politische Opposition zerstört und ihnen alle Freiheiten nimmt. Sie müssen damit leben, und irgendwann werden sie vor sich selbst rechtfertigen müssen, warum sie Putin und seinen Genozid an der ukrainischen Bevölkerung unterstützt haben. Warum haben mehrere hundert russische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter auch sehr bekannte, offene Briefe unterschrieben, um den Krieg in der Ukraine zu unterstützen, und diese dann in der Literaturnaja Gaseta veröffentlicht? Warum haben Dozierende und Studierende der Universität Sankt Petersburg diese Unterstützungsbriefe für Putins Politik ebenfalls unterzeichnet?
Warum haben russische Bibliotheksangestellte sofort nach Erhalt eines Schreibens des Ministeriums für Kultur, das zur Organisation von Aktionen zugunsten der russischen Armee aufrief, eilfertig Auto-Korsos, „literarische“ Abende und andere Aktivitäten veranstaltet? Sie verkleideten Puschkin-Büsten mit russischen Uniformen und suchten Zitate aus russischen Klassikern für ihre anti-ukrainische Propaganda heraus.
Wundert es da noch, dass in der ganzen Ukraine tausende Puschkin-Straßen nun nach ukrainischen Schriftstellern und Dichtern benannt werden, denen bisher nicht eine einzige Straße gewidmet war? Wundert es da noch, dass die Literatur Russlands zur Literatur eines fremden, feindlichen Lands geworden ist? Mich wundert es nicht.
Der Krieg gegen die ukrainische Identität wird bereits seit 302 Jahren geführt, seit im Jahr 1720 Peter der Große das erste Dekret in der Geschichte Russlands unterzeichnete, das die Veröffentlichung religiöser Schriften auf Ukrainisch untersagte. Das geschah elf Jahre nach der Schlacht bei Poltawa, in der die Armee Peters des Großen die ukrainischen Kosaken unter Hetman Mazepa besiegte und damit auch das schwedische Heer Karls XII., das die Ukrainer unterstützte. In Europa wissen nur die Wenigsten, dass die Ukraine bis 1654 gar nicht zum Russischen Reich gehörte. Sie führte ihr eigenes Leben.
Sie wählte ihr eigenes Staatsoberhaupt, das den Titel „Hetman“ trug und eher Oberbefehlshaber der ukrainischen Truppen war als ein Alleinherrscher über ukrainisches Gebiet. Die ukrainischen Kosaken wählten ihre Befehlshaber und sogar ihre Richter selbst. Jedes Mitglied dieses gewählten Rats besaß das Wahlrecht, und machte von diesem Recht Gebrauch.
In sowjetischer Zeit war die Ukraine größtenteils russifiziert. Aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte die individualistische Mentalität sehr viel schneller auf ukrainisches Gebiet zurück als die Sprache. Erstaunlich genug, dass das im Kreml niemandem aufgefallen ist. Dort nahm man an, die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine würde die russischen Soldaten mit offenen Armen willkommen heißen. Aber die russischsprachigen ukrainischen Städte – unter anderem Charkiw, Kiew, Mariupol, Ochtyrka – traten zur Verteidigung ihres Landes an, und dadurch wiederum erwachte bei der politischen Elite Russlands der Wunsch, die ganze Ukraine dem Erdboden gleich zu machen.
Seit acht Monaten, jeden Tag und jede Nacht, wird das russischsprachige Charkiw mit Raketen, Drohnen und Artillerie unter Beschuss genommen. Seit acht Monaten beerdigt Charkiw seine Einwohnerinnen und Einwohner, die jeden Tag von Russland getötet werden, und trotzdem gibt die Stadt nicht auf. Seit acht Monaten unterstützen ukrainische Dichterinnen und Dichter und andere Freiwillige – darunter auch Serhij Zhadan, der bekannteste Dichter des Landes – die ukrainische Armee bei der Verteidigung Charkiws, sie organisieren Literatur- und Musikveranstaltungen, helfen den Geflüchteten und Verwundeten.
Als am 7. Mai dieses Jahres eine russische Rakete das Museum zerstörte, das an Gregorius Skoworoda erinnerte, meinen ukrainischen Lieblingsautor und -philosophen aus dem 18. Jahrhundert, schrieb ich einen Tweet darüber. Sofort fragte mich ein Freund aus dem Ausland: „Wer ist Gregorius Skoworoda?“ Diese Frage – „Wer ist Gregorius Skoworoda?“ – eines europäischen Intellektuellen, veranschaulicht ein Problem, dessen Lösung wohl zehn bis zwanzig Jahre dauern dürfte. Und dieses Problem ist, dass weder in Europa noch auf anderen Kontinenten irgendetwas über die klassische ukrainische Literatur und die Kultur der Ukraine insgesamt bekannt ist.
Russland hat den Mythos erschaffen, dass auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion ausschließlich große russische Kultur zu finden sei, und die besten Vertreterinnen und Vertreter anderer Nationalkulturen des Reichs waren angewiesen, der russischen Kultur zu dienen. So sollte ihre eigene Kultur klein gehalten, wenn nicht komplett ausgelöscht werden.
Als Beleg dieses Umstands lassen sich die Werke des Ukrainers Mykola Gogol anführen, der auf Russisch schrieb, oder auch die Bücher des kirgisischen Autors Tschingis Aitmatow, der noch zu Sowjetzeiten zum Star der russischen Literatur wurde. Warum war man in Europa so leicht davon zu überzeugen, dass es an ukrainischer Kultur und Literatur fehlt? Warum wurden die Werke klassischer ukrainischer Schriftsteller und Dichter praktisch nie in andere Sprachen übersetzt?
Gregorius Skoworoda verfasste seine philosophischen Traktate und seine Gedichte in vielen Sprachen, allen voran Kirchenslawisch, Altukrainisch und Latein. Aber er beherrschte und nutzte auch Polnisch, Griechisch, Deutsch und Hebräisch. Er war ein umfassend gebildeter und, so können wir das heute sagen, durch und durch europäischer Intellektueller, der neben vielem anderem auch den Ideen eines philosophischen Pietismus zuneigte, wie er an der Universität Halle gelehrt wurde. Es ist mir ein Rätsel, dass sein Gedankengut und sein Werk bis jetzt nicht auf Interesse in der europäischen Philosophie, bei Studierenden oder Verlagen gestoßen ist.
Bis 1934 wurde in Charkiw nur Ukrainisch gesprochen. Sie war die Hauptstadt der sowjetischen Ukraine und entsprechend das Zentrum der Kultur und Literatur. Mitten im Zentrum wurde ein großes Gebäude mit geräumigen Wohnungen und gemütlichen Büroräumen errichtet, extra für ukrainische Schriftsteller, Dichter und Dramatiker. Das Haus trug auch einen schönen Namen – „Das Wort“. So lebte gewissermaßen die komplette literarische Moderne der Ukraine unter einem Dach.
Sie waren begeistert, bis ihnen klar wurde, dass es ungefähr so ist, als säßen sie alle im selben Flugzeug, dessen Triebwerk gerade Feuer gefangen hat. Zwischen 1937 und 1938 wurden fast alle Bewohner des Hauses festgenommen und in Gulags gesperrt, größtenteils in das bei Sandarmoch im Norden Russlands. Dort wurden fast alle Schöpfer der neuen ukrainischen Literatur erschossen und im Wald verscharrt. Les Kurbas, Mykola Kulish, Valerian Pidmogilny, Mykola Zerov, Grigory Epik, Marko Vorony und Dutzende weitere Schriftsteller, Dramatiker und Dichter fanden dort ihre letzte Ruhestätte.
Ständig werde ich gefragt, was ich als jemand, der seine Romane auf Russisch schreibt, vom Cancelling russischer Kultur und Literatur halte. Ob man das machen sollte oder nicht? Aber aus irgendeinem Grund werde ich nie gefragt, ob es nötig wäre, die Bücher brillanter ukrainischer Dichterinnen und Dichter der 1920er und 1930er ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen, zum Beispiel die von Vasyl Semenko, Mark Yoganson und vielen anderen.
Sie wissen doch alles über russische Kultur und russische Literatur! Sie haben Dostojewski und Tolstoi gelesen, Sie haben die Musik von Tschaikowski und Mussorgski gehört. Ihr Wissen, Ihre Liebe zu dieser Kultur kann kein Mensch canceln. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich in dieser für die Ukraine so schwierigen Zeit auch für das interessieren, was Sie noch nicht kennen – die ukrainische Kultur, die ukrainische Literatur.
Oft werde ich gefragt, wie und auf welche Weise man als ganz normaler Mensch der Ukraine helfen kann. Ich bin den Menschen in Deutschland dankbar für ihre Unterstützung ukrainischer Geflüchteter, ich bin der deutschen Regierung dankbar dafür, dass die Vertreterinnen und Vertreter der deutschen politischen Elite nach den langen Verzögerungen bei den Lieferungen von Waffen und Munition in letzter Zeit entschlossener handeln.
Lesen Sie die Bücher von Timothy Snyder, Anne Applebaum, Serhii Plokhy, Martin Pollack. Lesen Sie sie, damit Sie die Unterschiede zwischen der Geschichte des Russischen Reichs und der Geschichte der Ukraine begreifen, damit Sie verstehen, warum die Ukraine die russischen Streitkräfte nicht gefürchtet hat, verstehen, warum in der Ukraine kein Präsident für eine zweite Amtszeit gewählt werden kann, während gleichzeitig in Russland die lebenslange Herrschaft der Zaren weitergeht. Damit Sie die Geschichte des Kampfs um die ukrainische Identität verstehen, der die treibende Kraft hinter dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist.
ANDREJ KURKOW
(Aus dem Englischen von Tanja Handels)
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